Im September stand mit der Brenta-Fahrt sicherlich ein Höhepunkt des Bergjahres 2004 an. Klangvolle Namen wie Campanile Basso, Castelletto Inferiore, Fehrmann-Verschneidung oder Via delle Guide verhießen steile Kletterei in festem Kalkfels mit durchaus alpinem Anspruch. Am Samstag, dem 4.9.2004 machte sich unser bunt gemischter Haufen (Katrin, Norbert, Werner, Birgit, Detlev, Fritz, Ilona, Hermann sowie der Berichterstatter) auf die Reise in die italienischen Dolomiten.
Vom vereinbarten Treffpunkt in Madonna di Campiglio aus ging es mit unwesentlicher Verspätung und mit dicken Rucksäcken bepackt durch das eindrucksvolle Val di Brenta in gut vier Stunden zum Rifugio Pedrotti (2.496 m). Den langen Anmarsch mussten wir in Kauf nehmen, weil die anderen Brenta-Hütten (Tuckett, Alimonta, Brentei) übers Wochenende hoffnungslos ausgebucht waren. Obwohl wir den Termin mit Bedacht ausgewählt hatten: Anfang September ist die Ferienzeit in Italien zu Ende, somit weniger Touristen unterwegs; außerdem ist die Chance, eine stabile Wetterlage zu erwischen und den häufigen Hitzegewittern zu entgehen, relativ groß. Und so kam es auch. Abgesehen von ein paar harmlosen Quellwolken hatten wir an allen sieben Tagen total viel Sonne und sommerliche Temperaturen. Im durchwachsenen Sommer 2004 eine echte Ausnahme, Hoch „Lasse“ sei es gedankt. Offenbar hatte das gute Wetter viele Spontan- und Kurzurlauber in die Berge gelockt. Die Pedrotti-Hütte war jedenfalls rappelvoll. Wegen des anhaltend schönen Wetters waren auch die anderen Hütten die Woche über voll belegt, so dass wir nicht, wie ursprünglich geplant, die Hütte wechseln konnten. Dies jedoch nicht zu unserem Nachteil, wie sich noch zeigen sollte. Genau passend für unsere Gruppe konnten wir ein Lager mit neun Betten (oder besser gesagt: Hängematten mit Matratze drin) unter dem Dach beziehen. Die Sanitäranlagen auf der Pedrottihütte sind einfach, aber ausreichend. Dafür ist das Abendessen mit vier Gängen und mehreren Gerichten zur Auswahl ausgezeichnet. Der Hüttenwirt und sein Personal sind freundlich und hilfsbereit. Der Preis von 31 € für eine Übernachtung mit Halbpension geht noch in Ordnung. Weiterer Pluspunkt: der Hüttenwirt Donini Fortunato ist selbst ein begeisterter Kletterer. Er hat gleich neben der Hütte einen Klettergarten eingerichtet, der eine Handvoll Ein- bis Mehrseillängenrouten im mittleren bis oberen Schwierigkeitsbereich bietet. So sind auch unsere eher sportklettermäßig orientierten Mitglieder voll auf ihre Kosten gekommen.
Am Sonntag haben wir uns im Klettergarten erst mal eingeklettert, um uns langsam an den Fels und die Umgebung zu gewöhnen. Uns gelingen in wunderbar rauem Kalkfels Sportkletterrouten bis 6a+ rotpunkt. Nachmittags sind wir gleich in die ersten alpinen Klettertouren an der Cima Brenta Bassa (2.809 m) eingestiegen. Ich bin mit Detlev den Pederiva-Kamin (IV, 280 m, ca. 8 SL) geklettert, während Hermann mit Werner und Fritz sowie Katrin und Norbert den Treptow-Kamin (II, 270 m) gemacht haben. Neben der nicht immer leichten Wegfindung verlangt der Abstieg über den Normalweg mit Abseilen und Abklettern von II-er Stellen sogleich volle Konzentration und gute Nerven. Es wird uns schnell bewusst, dass bei alpinen Klettertouren gar nicht so sehr der reine Schwierigkeitsgrad eine Rolle spielt, als vielmehr Orientierungsvermögen, die richtige Taktik und umsichtiges Steigen.
Montag, 06.09.2004: dem Wetterbericht vertrauend sind wir schon um 6 Uhr aufgestanden und in dichtem Nebel zur Cima Margherita (2.845 m) gewandert; unser Ziel war die Videsott-Route. Wider Erwarten klarte es jedoch nicht auf, da half auch längeres Warten am Einstieg nicht. Also wieder zurück zur Hütte, durchgefroren und unverrichteter Dinge. Die nächsten Stunden verbrachten wir etwas unschlüssig mit Sportklettern, Kaffee-Trinken, Schlafen, einer Wanderung zur Agostini-Hütte und – abwarten. Endlich, um 3 Uhr nachmittags lichteten sich die Wolkenschleier. Jetzt schnell das Geraffel gepackt und ab in eine Klettertour! Nicht zu weit weg und nicht zu lang durfte sie sein. Laut Kletterführer empfahl sich hierfür die Gasperi-Route (IV-, 130 m) am Croz del Rifugio (2.516 m), der sich gleich neben der Hütte erhebt. Detlev und Birgit mussten nicht lange überredet werden, um die Tour mit mir anzugehen. Der Kletterführer („Steinkötters Märchenbuch“) versprach „schöne ausgesetzte Kletterei an meist gutem Fels“. Das mit dem schönen Klettern kam auch ungefähr hin. Für die alpine Würze sorgte allerdings Standplatzbau, Wegfindung und Abklettern im II. Grad. Das Ding war für uns drei schon ziemlich anspruchsvoll. Gerade noch rechtzeitig zur Vorspeise des Abendessens (Gerstelsuppe, Gemüsesuppe, Nudel mit Tomatesoße...) sind wir müde und happy zurück.
Am nächsten Morgen zeigt sich das Wetter wieder von seiner besten Seite. Fritz und Ilona sind heute auf dem Bocchette-Weg unterwegs, einem wunderschönen und berühmten Klettersteig im Herzen der Brentagruppe. Wir anderen wollen heute ein ganz besonderes Ziel angehen: den Campanile Basso (2.883 m), auch Guglia di Brenta genannt. Diese ungemein schlanke und steile Felsnadel dürfte jedem Bergsteiger ein Begriff sein. Das „Welträtsel aus Stein“, wie der Berg einmal poetisch genannt wurde, hatte mich schon seit vielen Jahren fasziniert, als ich ihn zum ersten Mal in einem Bildband über die Dolomiten erblickte. Jetzt stehe ich am Einstieg – mit gemischten Gefühlen aus Anspannung und Vorfreude. Der „Normalweg“ ist immerhin 13 Seillängen lang, mit IV/A0 oder rotpunkt V bewertet und gilt als schwierigster Gipfel der Brenta. Die Nadel wurde erst 1899 von O. Ampferer und K. Berger erstbestiegen. Die Schlüsselstellen sind eine kleingriffige, senkrechte Platte kurz nach dem Einstieg („Pooli-Wand“) und in der vorletzten Seillänge noch mal eine ziemlich ausgesetzte, kniffelige Wandkletterei („Ampferer-Wandl“). Dafür wird die Route durch gute Standplätze mit soliden Ringen, über die auch die Abseilpiste verläuft, entschärft. Zwischensicherungen sind in Form alter Nomalhaken vorhanden und müssen durch mobiles Sicherungsmaterial ergänzt werden. Als erste Seilschaft starte ich mit Detlev, dahinter kommt Hermann mit Birgit und Werner. Zum Schluss hat sich noch Katrin mit Norbert eingereiht; sie wollten ursprünglich die Fehrmann-Verschneidung machen, haben dann aber wegen Stau am Einstieg umgeplant. Die Führe über den Normalweg ist unheimlich eindrucksvoll. Über Wände, Stufen, Bänder und Kamine geht es einmal komplett um den ganzen Berg herum, so dass sich immer wieder neue An- und Ausblicke ergeben. Auf dem geräumigen Gipfelplateau machen wir eine längere Rast, läuten die Glocke und tragen uns ins Gipfelbuch ein. Die Aussicht vom höchsten Punkt ist phänomenal. Ich genieße es ganz tief, hier oben zu sein. Auch für die Klettergruppe ein schöner Erfolg – mit drei Seilschaften und sieben Mitgliedern gleichzeitig am Gipfel. Ein weiteres Erlebnis ist die anschließende Abseilfahrt. Teilweise frei schwebend geht es sieben Mal in die Tiefe. Nicht immer ist es einfach, die nächste Abseilstelle zu finden und das Seil vom letzten Standplatz abzuziehen. Als letzte der vielen Seilschaften machen Katrin und Norbert um 19.00 Uhr am Campanile das Licht aus. Das Wetter hat gehalten, alle Schwierigkeiten sind gemeistert, alle waren oben und sind wieder heil unten angekommen. Klettererherz, was willst du mehr?! Abends auf der Hütte sind alle – mit Recht – stolz und aufgeregt und ausgelassen. Die Gefühle nach einer gelungenen anspruchsvollen Klettertour sind nur schwer in Worte zu fassen. Ich nenne es einfach: Glück!
Der nächste Tag, Mittwoch, begrüßt uns wiederum mit traumhaftem Wetter: eine gleißende Sonne am tiefblauen Himmel, Dunst in den Tälern, kaum Quellwolken, nur einige hohe Schleierwolken. Heute gelingt uns endlich die Videsott-Route durch die Südwand der Cima Margherita (V, 280 m, ca. 12 SL). Hermann steigt mit Birgit und Werner vor, danach klettern Katrin und Norbert, das Schlusslicht bin ich mit Fritz und Detlev. Auch wenn wir heute die einzigen Seilschaften in der Wand sind, brauchen wir durch die Wartezeit an den Standplätzen doch wesentlich länger, als im Führer angegeben. Ist aber wegen der stabilen Verhältnisse kein Problem. Die Route erweist sich als typische Brenta-Kletterei: steil, ausgesetzt und spärlich abgesichert. Aber auch mit schönen Kletterstellen in rauem, festem Kalkstein. Hermann findet mit sicherem Gespür den richtigen Weg durch die manchmal unübersichtliche Wand. Ab und zu zeigt uns eine alte Rostgurke oder ein verwitterter Holzkeil, dass wir noch in der richtigen Route sind. Die Standplätze sind meistens verbesserungsbedürftig, manchmal auch selbst zu bauen. Die lange Kletterei in der Mittagsonne verlangt wieder hohen Einsatz von jedem von uns. Einmal haben wir großes Glück, als ein größerer Stein, von uns selbst ausgelöst, aus vielleicht 20, 30 Metern Höhe herabfällt, direkt neben uns an der Wand aufschlägt und mit lautem Knall zerbirst. Einige Splitter treffen noch meinen Helm und den Rucksack von Fritz. Der üble Schwefelgeruch von zertrümmertem Stein steigt mir in die Nase. Schlagartig wird uns wieder die Ernsthaftigkeit unseres Hobbys bewusst. Vom Gipfel aus genießen wir dann die Rundsicht auf Cima Tosa, Crozzon, Cima Brenta Alta und die bereits von uns bestiegenen Gipfel Cima Brenta Bassa und Campanile Basso. Die Gipfel sind so nah, dass wir den anderen Bergsteigern auf ihnen zurufen und zuwinken können. Später noch mal eine Schrecksekunde: Fritz rutscht beim Abstieg in einer steilen Geröllrinne aus, kann sich aber wieder fangen. Glücklicherweise ist nichts passiert. Die Abstiegsroute über den Normalweg (II) ist durch Steinmänner gut markiert. Sie führt zunächst über abzukletternde Felsstufen, dann über Schrofengelände und zuletzt ein steiles Schneefeld hinab zu unserem Rucksackdepot am Einstieg. Unsere Reserven sind erschöpft und die Füße schmerzen von den engen Reibungsschuhen. Aber wir sind froh und beschließen einen weiteren tollen Bergtag bei rotem Wein und bester Stimmung im gemütlichen Rifugio.
Am nächsten Tag lassen wir es etwas ruhiger angehen. Nach vier Tagen geht uns langsam die Motivation aus, sich in das nächste alpine Abenteuer zu stürzen. Das Wetter will einfach nicht schlecht werden und so beschließen wir als Alternativprogramm, ein Stück des Klettersteigs „Via alta di Bocchette“ abzulaufen. Aus dem geplanten Ruhetag wird ein anstrengendes Auf und Ab über Eisenleitern, Schneefelder und steilen Fels. Belohnt werden wir dafür mit einer wirklich eindrucksvollen Berglandschaft, in die der Brentanebel immer neue mystische Stimmungsbilder zaubert. Wir sind begeistert! Immer wieder bleiben wir stehen, schauen und staunen. Merkwürdig, aber beim Klettern nehmen wir oft gar nicht wahr, wie schön die Bergwelt um uns herum ist. Hermann hat sich abgesetzt und genießt einen faulen Hüttentag. Ilona und Fritz, der von Schmerzen in der Leistengegend geplagt wird, sind zur talnahen Casinei-Hütte abgestiegen und verbringen die letzten zwei Tage mit Wandern.
Am Freitag, dem letzten Tag auf der Pedrotti-Hütte, stehen die berühmte Fehrmann-Verschneidung am Campanile Basso oder der nahe Klettergarten zur Debatte. Wir entscheiden uns für stressfreies Genussklettern. Irgendwie ist aus uns allen die Luft heraus. Ein weiterer Tag mit traumhaftem Wetter von Sonnenauf- bis –untergang wird uns geschenkt. Vorm Abendessen setze ich mich ein wenig von der Hütte und der Gruppe ab und lasse die vergangenen Tage innerlich Revue passieren. Ich bin total erleichtert, dass alles gut gelaufen ist und keine Unfälle passiert sind. Lag doch ein Großteil der Verantwortung für die ganze Gruppe auf meinen Schultern. Die Gruppe hat toll zusammen gehalten, nein, mehr noch, sie ist ein gutes Stück weiter zusammen gewachsen. Als ich noch mal in die Runde blicke, die stolzen Gipfel abzähle, die wir erklommen haben, steht mir – ich will es nicht verhehlen – das Wasser in den Augen. Die Brenta-Fahrt wird uns allen sicherlich noch lange und in guter Erinnerung bleiben. Am Samstag steht uns nur noch der lange Abstieg nach Madonna di Campiglio bevor. Detlev hatte sich gestern Nachmittag schon verabschiedet, er ist am selben Tag noch nach München gefahren. Fritz und Ilona erwarten uns weiter unten an der Casinei-Hütte. Zusammen geht es das letzte kurze Stück bis zu den Autos und dann ab nach Hause.