Noch mal gut gegangen – Erinnerungen eines Alpinisten, der fast keiner geworden wäre

In 25 Jahren Bergsport habe ich viele schöne und erfolgreiche Klettertouren gemacht, darunter große Klassiker wie Graue Wand, Badilekante, Guglia di Brenta, Tofanapfeiler oder Große Zinne; insgesamt waren es um die 60 alpine Felskletterrouten. Neben all den sonnigen Tagen mit den Kameraden am Fels, abseits vom großen Berg- und Gipfelglück gab es aber auch dunkle Momente höchster Gefahr und Bedrohung: kurze Augenblicke, manchmal nur Sekunden, in denen das Leben auf Messers Schneide stand. Von einem solchen Erlebnis, das sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat, will ich hier erzählen (siehe auch Bergpostille 1999/1, S. 44-46).

Es war im Sommer 1998 in den Schweizer Alpen. Vor gerade mal zwei Jahren hatte ich mit dem Klettern angefangen und eine Hand voll, genauer gesagt fünf alpine Klettertouren in der Tasche, alle am Seil und unter der Obhut eines erfahrenen Fachübungsleiters unserer Alpenvereinssektion. Ich war jung und brannte darauf, auch einmal in eigener Verantwortung eine große Klettertour zu unternehmen. Mit drei Freunden aus der Klettergruppe - Werner, Heino und Martin, ebenfalls alpine Neulinge - wollte ich den Salbit-Schijen (2.985 m) in den Urner Alpen über den Süd-Grat (5c, 15 Seillängen) besteigen. Es war eine der üblichen Hau-Ruck-Aktionen: Freitagnachmittags direkt nach der Arbeit los fahren, samstags die Tour, Sonntagabend wieder zuhause. Kein Einklettern, keine Akklimatisation. Erst spät in der Nacht kommen wir an der Salbit-Hütte an. Wir waren Rookies und ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich daran denke, wie wir im Dunkeln mit unseren 20-Kilo-Rucksäcken den Berg hoch gestolpert sind. Heino bekommt Wadenkrämpfe und Martin, der klatschnass geschwitzt ist und dringend eine Ess- und Trinkpause braucht, zieht, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, eine riesige Tupper-Dose mit einem kompletten Kuchen aus dem Rucksack. Wir mussten noch viel lernen! Die eigentliche Kletterei am Südgrat ging dann aber erstaunlich gut vonstatten: Werner und ich voran, dahinter als zweite Seilschaft Heino und Martin. Wir klettern alles frei, die Wegfindung ist kein Problem, alles läuft prima, wenn auch etwas langsam. Am Ende der letzten Seillänge kommt schon ein erstes Glücksgefühl auf.

Eigentlich ist die Klettertour hier zu Ende, aber ich will noch das Sahnehäubchen mitnehmen, will noch auf die spektakulär frei stehende Gipfelnadel des Salbit-Schijen hinauf steigen. Irgendwie verpasse ich in dem unübersichtlichen Blockgelände aber den richtigen Einstieg. Ich klettere eine steile Felsplatte hinauf, von der ich vermute, dass es die Salbitnadel ist. Immerhin war unten ein Haken, der nach einem Standplatz ausgesehen hat. Unterwegs machen mich aber die Flechten-bewachsenen Platten misstrauisch: hier ist bestimmt noch keiner gewesen, bin ich überhaupt richtig? Da ich nach den anfänglichen Rissen in der kompakten Platte keine mobilen Sicherungen mehr legen kann, klettere ich einfach weiter in der Hoffnung, dass schon noch irgendein Haken oder eine Schlinge kommen wird. Tut es aber nicht. Ich staune nicht schlecht, als ich an der Spitze des Felszackens ankomme und absolut nichts vorfinde. Kein Haken, kein Standplatz, kein Abseilring, gar nichts! Ich realisiere, dass ich auf einem Nebengipfel gelandet bin, die richtige Salbitnadel steht seitlich von mir. Scheiße! Was jetzt? Auf den Flechten ab zu klettern erscheint mir zu gefährlich und so tue ich das einzig mir hier und jetzt möglich erscheinende: eine lange Bandschlinge um den flachen Felskopf legen und daran Stand beziehen. Wie gelernt die Nachsteigersicherung bauen und dann das Kommando an Werner: „Nachkommen!“. Werner kommt nach und sammelt die von mir gelegten Keile und Friends ein. Dann kommt es, wie es kommen musste: sei es, weil die Stelle zu schwer war, sei es, dass er einen verklemmten Friend nicht raus bekommt, ich höre Werner nur kurz rufen, sehen kann ich ihn nicht: „Ich setz mich mal rein!“ Unter der Last strafft sich das Seil und zerrt an der nur lose über den Felszacken gelegten Bandschlinge, in der nicht nur seine Halbmastwurf-Sicherung, sondern auch ich selbst hänge. Weil der Zug aber nicht gerade von unten, sondern etwas von der Seite her kommt, beginnt die Schlinge sich plötzlich zu bewegen: erst klappt das Band über die gewölbte Kante einmal um, dann noch mal. Wenn jetzt nichts passiert, wird die Schlinge über das runde Köpfel flutschen und wir beide sind weg. Einfach so. Unser beider Leben hängt jetzt im wahrsten Sinne des Wortes an einem seidenen Faden, eben an jener bedrohlich umschlagenden Bandschlinge. Die Situation ist irgendwie total surreal und doch ist mir ganz klar, was gleich passieren wird. Ohne lange nachzudenken tue ich in diesem Augenblick intuitiv das Richtige: ich hänge mich mit meinem eigenen Körpergewicht in die entgegengesetzte Richtung des Sicherungsseils, an dem Werner hängt. Das Band bewegt sich nicht mehr und liegt jetzt wieder einigermaßen stabil auf dem runden Felskopf. Das war knapp, verdammt knapp! Bald ist Werner oben und wir können uns an der Köpfelschlinge von dem Felsturm abseilen. Ziemlich erleichtert erreichen wir wieder sicheren Grund, wo Heino und Martin schon auf uns warten. Uns allen ist die Lust vergangen, noch auf die richtige Salbit-Spitze zu steigen. Es reicht! Nach acht Stunden Klettern und fünf Stunden Zu- und Abstieg ist das Abenteuer an der Hütte zu Ende. Wir haben viel erlebt, noch mehr gelernt und den extrem schmalen Grat zwischen Glück und Tragödie beschritten. Wir haben was riskiert, sind in eine brenzlige Situation geraten und mit mehr Glück als Verstand (oder dank unseres Schutzengels?) mit heiler Haut raus gekommen. Noch mal gut gegangen!

Was hat aber mein Seilpartner zu der ganzen Aktion gesagt? Werner, der mit seiner bescheidenen und selbstlosen Art, mit seiner Kameradschaft und Zuverlässigkeit ein Vorbild für uns alle war, hat aus der Sache kein Aufheben gemacht. Kein Vorwurf, kein Wort des Grolls war von ihm zu hören. Noch heute befällt mich ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, in welche gefährliche Situation ich damals auch ihn gebracht habe. Werner ist im Jahr 2015 nach langer Krankheit viel zu früh von uns gegangen. Seinem Andenken seien diese Zeilen gewidmet.

 

Peter May