Auf dem Eifelsteig zum Heiligen Rock

Glaube, Heimat und körperliche Betätigung - diese drei fundamentalen Dimensionen menschlichen Daseins, die auf den ersten Blick so gar nichts miteinander zu tun haben, ließen sich bei meiner letzten Tour auf einmalige Weise harmonisch verbinden.

Anfang Mai 2012, als sich der Rest der Familie zum Strandurlaub gen Süden abgemeldet hatte, stand mir ein Zeitrahmen von 12 Tagen für unnützliche, unvernünftige oder einfach nur spaßige Dinge zur Verfügung. Da es für alpine Bergtouren noch zu früh im Jahr war, ergab sich auf der Suche nach neuen Zielen und Herausforderungen recht bald und zwanglos der Plan, einmal den kompletten Eifelsteig von Aachen bis nach Trier abzulaufen. „By the way“ ließ sich diese Wanderung als religiös motivierte Pilgerreise zum Heiligen Rock unternehmen, der just zu dieser Zeit im altehrwürdigen Dom zu Trier den Gläubigen gezeigt wurde - etwa nach dem Motto „Von Karl zu Konstantin“ oder „Drei Klöster, zwei Dome, ein Weg“. Zu guter Letzt führt der Weitwanderweg genau durch das Stück Eifel, in dem ich aufgewachsen bin und mit dem ich mich immer noch innig verbunden fühle. Es gab also genug gute Gründe, sich einmal von der Vertikalen in die Horizontale zu begeben und den gewiss langen und mühsamen Weg unter die Wandersohlen zu nehmen. Neben der sportlichen Herausforderung war ein weiteres entscheidendes Motiv die Suche nach Stille, Einsamkeit und Einklang mit der Natur. Raus aus der Stadt, weg von Lärm, Hektik und den Menschen, eintauchen in die Landschaft, einen anderen, langsameren Rhythmus finden - ja, genau das wollte ich. Die Wanderung unternahm ich deshalb alleine. So konnte ich auch völlig unabhängig das Tempo, die Pausen und die Etappenlänge gestalten und hätte notfalls jederzeit abbrechen können. Mit einem gut gemachten Führer (Eifelsteig-Wanderkarte 1 : 25 000, mit Ausflugszielen, Einkehr- und Freizeittipps, ISBN 978-3-89920-516-9) und Informationen aus dem Internet (www.eifelsteig.de; www.eifelsteig-unterkunft.de) konnte die konkrete Planung beginnen. Üblicherweise wird der Eifelsteig, der von Kornelimünster bis Trier durchgängig markiert und 313 km lang ist, in 15 Tagesetappen gemacht, was einer durchschnittlichen Etappenlänge von etwa 20 Kilometern entspricht. Aus verschiedenen Gründen wollte ich diese Etappen etwas straffen: zum einen, weil ich feste Übernachtungspunkte bei meinen Geschwistern in Hillesheim und Daun sowie in den Klöstern Steinfeld und Himmerod anvisierte, zum anderen, weil mir 20 Kilometer einfach zu kurz erschienen, um einen ganzen Tag wandernd zu verbringen. Ich hatte ja ohnehin nicht so viel Zeit zur Verfügung, um den gesamten Weg in der üblichen Zeit abzulaufen und konnte so noch einiges an Übernachtungs- und Verpflegungskosten einsparen. Ich zerlegte also die Strecke in 9 Tagesetappen: Aachen - Roetgen - Einruhr - Steinfeld - Blankenheim - Hillesheim - Daun - Himmerod - Zemmer - Trier. Für sieben Tage rechnete ich mir jeweils gut 30 Kilometer Strecke und acht bis neun Stunden Gehzeit aus, zwei Tage sollten mit rund 25 Km und 6 Stunden Gehzeit etwas kürzer ausfallen. Könnte klappen, könnte aber auch zu ehrgeizig sein - es würde sich zeigen.

Am Ende hat es dann geklappt, ich konnte den Weg tatsächlich in neun Tagen an einem Stück bewältigen, insgesamt wurden es aber „nur“ 240 Kilometer und 70 Stunden Gehzeit. An dieser Stelle muss ich ein kleines Geständnis machen: eingefleischte Wanderer werden mir jetzt - vielleicht nicht ganz zu Unrecht - Hochstapelei und Anmaßung vorwerfen. Ja, ich bekenne: die offizielle Route habe ich an etlichen Stellen abgekürzt und damit, genau genommen, den Eifelsteig nicht wirklich gemacht. Aber dafür gibt es nachvollziehbare Gründe, die noch auszuführen sind - und eigentlich ist das ja auch total egal.

Aber der Reihe nach. Als echter Sportsmann begann ich das Unternehmen zu Fuß und von der Haustür aus - Ehrensache. Mit minimalem Gepäck (ca. 7 kg) auf dem Rücken und flotten Schrittes, sozusagen im Alpinstil, ging es erst mal zum Koblenzer Hauptbahnhof. Der Zug brachte mich schnell und komfortabel über Köln nach Aachen. Dort begab ich mich zunächst in den Dom und zündete eine mitgenommene Kerze an - kann ja nichts schaden. Genau hier, in der Pfalz Karls des Großen, der Krönungsstätte deutscher Kaiser und Könige, sollte der spirituelle Ausgangspunkt meines Weges sein. Eine zweite Kerze wollte ich nach Trier tragen. Jetzt erst konnte es richtig losgehen. Das Wetter hätte etwas freundlicher sein können, aber immerhin blieb es trocken. Gegen Mittag erreichte ich das vor den Toren der Stadt liegende Kornelimünster mit seinem alten und neuen Kloster, wo der offizielle Eifelsteig beginnt. Dann weiter durchs Tal der Inde, vorbei an Dörfern und durch stille Wälder. Die Markierung ist lückenlos und lässt nicht zu wünschen übrig. Man braucht eigentlich keine Karte, muss sich dann aber streng an die vorgegebene Wegführung halten. Der Weg führt oft abseits von befestigten Wegen durch Wald- und Wiesengelände und war durch das feuchte Frühlingswetter und die vielen Begeher stellenweise sehr matschig, ausgetreten und unangenehm zu begehen. An dieser Stelle eine weitere Erklärung: Laut Führer wurde für den Eifelsteig unter dem Motto „Wo Fels und Wasser dich begleiten“ eine attraktive Streckenführung gesucht und auch gefunden. Vor allem Erstes - gesuchte Strecke - kann ich nur bestätigen. Es grenzt stellenweise schon an Willkür, wenn der Eifelsteig nur wenige Meter abseits von befestigten Wegen oder Ortsstraßen sich mühsam durch unbefestigtes Gelände auf- und abschlängelt - und dass ganz offensichtlich in der gut gemeinten Absicht, die notwendigen Kilometer bzw. Punkte für einen zertifizierten „Premium-Wanderweg“ auf möglichst viel naturbelassenem Untergrund einzuheimsen. Anfangs habe ich dieses Spiel noch mitgemacht, später habe ich aber immer öfter meine eigene Route auf besseren Wegen gesucht, dafür aber auch Asphalt und Autoverkehr in Kauf genommen. Dies hat mir viel Matsch und etliche Kilometer Umweg erspart. Meine Devise war nicht unbedingt „der Weg ist das Ziel“, sondern eher „das Ziel ist das Ziel!“. Dennoch blieb der Eifelsteig mit seinen vorgegebenen Etappenorten stets der „rote Faden“ für die Wanderung. Wie auch immer, am Ende des ersten Tages kam ich nach 24 km und 6 Stunden in meiner Pension in Roetgen an. Schon ein wenig müde, aber so könnte es weiter gehen. Beim Abendbrot am „Katzentisch“ eines Restaurants zeigte sich die Kehrseite der Medaille, wenn man eine Wanderung als Solotour unternimmt. Gerne hätte ich mich mit einem Partner über die Eindrücke des vergangen Tages ausgetauscht und Pläne für den kommenden geschmiedet. So blieb mir zur Unterhaltung nur der Eifelkrimi, den ich mir passend zur Tour in den Rucksack gesteckt hatte.

Am zweiten Tag ging es bei recht gutem Wetter und bester Laune übers Hohe Venn, eine stille und sehr eindrucksvolle Wald- und Heidelandschaft. Unterwegs kaum ein Mensch. Am Steling, einer Anhöhe von 658 Metern Meereshöhe an der belgisch-deutschen Grenze war schon der topografische Höhepunkt der Tour erreicht. Von hier aus bot sich ein unglaublicher Weitblick, sicherlich dreißig, vierzig Kilometer hinaus in die Nordeifel. Windräder, ziehende Wolken, blauer Dunst in der Ferne - einfach nur schön. Nun steil hinab ins Rurtal nach Monschau. In dem beschaulichen Städtchen gönnte ich mir auf dem Marktplatz eine halbe Stunde Mittagpause, bevor ich, die Schleife um die Perlenbachtalsperre rechts liegen lassend und dem Rurtal ostwärts folgend, nach 32 Km und 8 Stunden mit nun schon deutlich wahrnehmbaren Druckstellen an den Fußsohlen Einruhr am Rurstausee erreichte. So heftig hatte ich mir zwei zusammengezogene Tagesetappen doch nicht vorgestellt, aber der erste Härtetest war bestanden. Die Teleskopwanderstöcke, die ich in den steilen Seitentälern der Rur erstmals ausgepackt hatte, sollte ich für den Rest der Wanderung nicht mehr aus der Hand legen. Sie haben mir eine echte Erleichterung verschafft.

Am dritten Tag war Regen mein ständiger Begleiter. Zum Glück hatte ich gute Regensachen eingepackt, so dass ich wenigstens von innen trocken blieb. Dennoch war zügiges Vorankommen angesagt, wollte ich doch noch heute das Kloster Steinfeld erreichen. Ich ersparte mir also die bei schönem Wetter gewiss sehenswerten Naturschönheiten am Rurstausee, die NS-Ordensburg Vogelsang und den Umweg über Schleiden. Stattdessen ging es, teilweise über die vielbefahrene Bundesstraße, durchs Urfttal über Gemünd, Kall und Sötenich nach Steinfeld. Tieferen Eindruck hat lediglich die kahle, einsame Hochfläche auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Vogelsang mit der Wüstung Wollseifen hinterlassen, die durch das neblig-nasse Wetter nur umso trauriger wirkte. Nach 7 Stunden bzw. 27 km war das Kloster erreicht. Hier wies man mir im Gästehaus ein einfaches Zimmer zu, welches ich dankbar bezog. Abends gab es im Refektorium wohlverdientes Essen und Trinken nebst geselliger Unterhaltung mit anderen Eifelsteiglern, die ich aber am nächsten Tag schon wieder aus den Augen verlor. Die Unterkünfte buchte ich übrigens kurzfristig von Tag zu Tag, ich wusste ja nicht, wie weit ich es schaffen würde. Das war auch kein Problem, es war ja Vorsaison und ich hatte mir die Adressen schon vorher besorgt.

Vierter Tag - immer noch Regenwetter. Das erste Drittel der Tour durch Hohes Venn und Rureifel lag schon hinter mir. Die nächsten drei Tage durch die Zentraleifel mit ihren Kalkmulden und Vulkankegeln würden ein ganz anderes Naturbild bieten. Die unterschiedlichen geologischen Verhältnisse bedingen ganz eigene Vegetations- und Landschaftsformen, die durchaus auffallen. So gab es unterwegs immer wieder Interessantes zu beobachten, richtig langweilig wurde es auf der Tour eigentlich nie. Dazu wechselt beim Marschieren ständig die äußere Wahrnehmung - Landschaft, Ortsbilder, Witterung - mit der nach innen gewandten Betrachtung, den Gedanken über Vergangenes, Erlebtes, das Leben überhaupt. Wer offen dafür ist, kann beim Gehen intensiv Zwiesprache mit dem eigenen Ich halten. Gedanken, die sonst wenig oder keine Zeit haben, gedacht zu werden, kommen und gehen, reinigen den Kopf. Es hat schon etwas meditatives, wenn, gleich einem Mantra, Melodien oder Fetzen eines Gedichtes im Kopf herum schwirren, manchmal stundenlang. Ein altes Kirchenlied zum Beispiel ging mir die ganze Reise lang nicht aus dem Sinn: Wer nur den lieben Gott lässt walten… Ich schweife ab. Heute Morgen ließ ich mir Zeit und besuchte nach einem ausgiebigen Frühstück noch die Frühmesse in der Klosterkirche. Bei dem Regenwetter würde ich unterwegs nicht allzu viel verpassen. Auf den Schlenker zur römischen Wasserleitung an der Urft, die einstmals von hier bis nach Köln führte, verzichtete ich. Dafür sah ich mir bei Nettersheim ein römerzeitliches Heiligtum an, das den örtlichen Fruchtbarkeits- und Muttergottheiten, den Matronen, geweiht war. Auf der Landstraße, später über Wald- und Wiesenwege ging es, teilweise durch knöchelhohen Morast, bis nach Blankenheim, wo unter einem Fachwerkhaus bekanntlich die Ahr entspringt. Wasser von oben, Wasser von unten. Ach ja - der Eifelsteig, wo Fels und Wasser dich begleiten… Die alte Residenzstadt der Grafen von Manderscheid-Blankenheim empfing mich in dichtem Nebel. An dieses S..wetter war ich mittlerweile ja schon gewöhnt. Als kleine Entschädigung für den verregneten Tag gönnte ich mir ein luxuriöses Hotelzimmer, die heiße Dusche war hoch willkommen. Heute waren es - nur - 5 ½ Stunden und 19 km.

Am fünften Tag stand wieder eine Mammutetappe auf dem Programm. Es sollten insgesamt 31 Kilometer werden und mit 9 ½ Stunden die längste Gehzeit der Tour. Die Schmerzen unter den Füßen hielten sich in Grenzen, zumal der Geist beflügelt war in der Gewissheit, jetzt die engere Heimat zu betreten. Von Blankenheim ging es zunächst durch triefnasse Wälder Richtung Ripsdorf und über die Eifeler Hauptwasserscheide zwischen Rhein/Ahr und Mosel. Die Wachholderheiden bei Alendorf ließ ich rechts liegen, ebenso den Nohner Wasserfall, den ich schon kannte. In Mirbach gab es eine Mittagspause mit Kaffee und Kuchen in einer kleinen Wanderhütte, dann weiter durch ausgedehnte Wälder nach Kerpen, wo ich die Burg und das Grab des berühmten Eifelmalers Fritz von Wille besuchte. Das Wetter wurde im Tagesverlauf immer besser und am Nachmittag zeigte sich nach zwei völlig verregneten Tagen erstmals die Sonne, ein wahrer Lichtblick. Über Berndorf und offenes Land ging es schließlich nach Hillesheim, wo ich bei meinem Bruder übernachten konnte. Hillesheim ist für mich ein besonderer Ort, hier erblickte ich vor 49 Jahren das Licht der Welt. Von einer Anhöhe in der Nähe des Ortes aus konnte ich deutlich die Gegend um mein Heimatdorf Auel erkennen, wo ich aufgewachsen war, gerade mal zwei Stunden entfernt. Ich muss schon sagen, das hat mich tief berührt. Den langen Weg von Aachen bis hierher geschafft! Hier war in mehrfacher Hinsicht Mittel- und Wendepunkt meiner Wanderung auf dem Eifelsteig. Nun würde ich auch die andere Hälfte bis nach Trier schaffen, da war ich mir ziemlich sicher. Nach den vergangenen Tagen in der „Fremde“ war es schon bewegend, wieder so viel Bekanntes und Vertrautes zu sehen.

Sechster Tag, die Perspektive hat gewechselt: Hatte ich mich bisher von Tag zu Tag der Heimat genähert, so ging es jetzt wieder fort in die Ferne. Noch bewegte ich mich allerdings in bekanntem Gelände. Zunächst über Bolsdorf und Dohm nach Gerolstein, wo ich 9 Jahre lang Pennäler auf dem St. Mathias-Gymnasium war. Der Tag war schön sonnig, aber frühmorgens in den nebligen Flusstälern noch so lausig kalt, dass ich mir die Handschuhe über die schmerzhaft beißenden Fingerspitzen ziehen musste. Die landläufige Bezeichnung der Eifel als „rheinisches Sibirien“ kommt nicht von ungefähr, das Wetter kann tatsächlich zu jeder Jahreszeit ziemlich rau sein. Auf einsamen Forstwegen erreichte ich zur Mittagzeit Neroth. In der „Mausefalle“ gab es eine längere Pause und eine warme Mahlzeit. Hier ein kritischer Einschub: es ist wirklich nicht zu fassen, aber die wunderschöne, markante Vulkankuppe des Nerother Kopfes soll, wie viele andere Eifeler Vulkane, der Lavaindustrie geopfert und abgebaut werden. Wenn die Pläne nicht noch gestoppt werden (Infos unter: www.eifelvulkane.wordpress.com), gibt es am Eifelsteig bald einen Fels weniger zu bewundern! Am Nachmittag erreichte ich Daun, wo ich bei meinem anderen Bruder übernachten konnte. Nach weiteren 24 Kilometern und 8 Stunden taten die Füße ordentlich weh. Aber der Mensch gewöhnt sich ja an vieles, auch an Druckstellen unter den Fußsohlen, die sich bei jedem Schritt unangenehm bemerkbar machen. Vielleicht hätte ich auf der Tour besser doch keine nagelneuen Schuhe anziehen sollen. Dummer Anfänger-Fehler, ich hätte es besser wissen müssen! Na ja, solange keine Blasen entstanden, konnte ich damit gut leben.

Am siebten Tag ging es ans letzte Drittel der Tour, hinab in die Südeifel. Das Wetterglück hatte mich verlassen wie schon zuvor in diesem durchwachsenem Frühling 2012. Es tratschte von morgens bis abends, mal mehr, mal weniger. Wollte ich heute noch bis zum Kloster Himmerod kommen, musste ich mich dranhalten und ordentlich abkürzen. Die Dauner Maare, weithin berühmte Wahrzeichen der Vulkaneifel, blieben links liegen. Ich kannte sie ohnehin schon in- und auswendig. Zunächst auf der Landstraße gen Süden ging es dann über den bekannten Lieserpfad nach Manderscheid, bei all dem Matsch kein wirklicher Genuss. Angesichts der aufgeweichten Wege und dem anhaltenden Regen, der sich nachmittags zu kräftigen Schauern auswuchs, entschied ich mich, nicht mehr weiter dem Eifelsteig durchs Liesertal zu folgen, sondern den kürzesten Weg über die Landstraße nach Himmerod zu suchen. Dort kam ich am frühen Nachmittag nach 28 km und 8 Stunden an. Dem klösterlichen Ambiente entsprechend war das Abendessen recht einfach. Dafür gab es reichlich Nahrung für die Seele in der abendlichen Komplet, in der die Klosterbrüder die über Jahrhunderte tradierten gregorianischen Choräle sangen. Ein fremdartig-schönes, fast schon mystisches Hörerlebnis jenseits aller weltlichen Befindlichkeiten. Sehr weltlich allerdings war das mittlerweile stattliche Ödem unter meiner rechten Fußsohle. Jetzt hieß es, noch zwei Tage lang die Zähne zusammenzubeißen.

Der achte Tag führte mich bei viel Sonnenschein auf direktem Weg über die Landstraße durch ein paar verschlafene Dörfer bis nach Greverath, wo ich wieder auf den Eifelsteig stieß. Kurz vor dem Tagesziel überschritt ich die römische Langmauer, vermutlich die Umfriedung eines kaiserlichen Gutsbezirks, die heute noch die Grenze zwischen den Landkreisen Bernkastel-Wittlich, Bitburg-Prüm und Trier-Saarburg markiert. Insgesamt durchschritt ich bei meiner Reise übrigens fünf Landkreise, wie sich unterwegs immer leicht an den Autokennzeichen ablesen ließ: AC, EU, DAU, WIL und TR. Meine letzte Übernachtung hatte ich in einer Pension in Zemmer. Ich freute mich schon darauf, die nächste Nacht wieder im eigenen Bett verbringen zu können. Mit 23 Km und 6 Stunden Gehzeit war es eine relativ kurze Etappe.

Neunter und letzter Tag. Schon in leicht euphorischer Stimmung nahm ich die letzte Etappe in Angriff, auch wenn ich wusste, dass es noch mal ein strammer Marsch werden würde. Bis Trier waren 29 Km zu bewältigen, für die ich noch mal 8 Stunden brauchte. Ein letzter landschaftlicher Höhepunkt war die Gegend um Kordel im Kylltal mit seinen imposanten roten Sandsteinfelsen. An der malerischen Burg Ramstein vorbei ging es durch das Butzerbachtal mit seinen Wasserfällen, vorbei am römischen Kupferbergwerk „Pützlöcher“, der Einsiedlerei Klausenhöhle, der mächtigen Hochburg und der gigantischen Genovevahöhle. Einiges davon hatte ich mir schon im vergangenen Jahr angeschaut, so dass ich mich mit den Sehenswürdigkeiten nicht allzu lange aufhalten musste. Gegen Mittag wurden die Quellwolken immer größer und dunkler und ich rechnete schon fest mit einem erneuten Regenguss. Ich legte noch einen Gang zu, aber zum Glück blieb es trocken. Hinter Biewer dann der letzte schweißtreibende Aufstieg auf den Höhenweg über die roten Buntsandsteinfelsen am Rand der Moseltalweitung, dann lag sie vor mir: Trier, die Stadt der Cäsaren, das Rom des Nordens, der Endpunkt meiner Reise. Tief unter mir der Fluss, dahinter die Stadt mit der Römerbrücke, der Basilika und dem Dom - ein ergreifender Anblick. Noch ein kurzes Stück durch die Stadt, dann schritt ich durch die Porta Nigra und war am Dom. Zufrieden und dankbar und auch ein wenig stolz zündete ich, wie versprochen, die mitgebrachte Kerze an. Dann reihte ich mich in die lange Schlange der Gläubigen und Touristen ein und machte, mehr pflichtgemäß als frommen Herzens, dem Heiligen Rock meine Aufwartung. Gott sei es gedankt, es war alles gut gegangen auf meiner Reise. Zwar nicht ganz ohne Blessuren, aber im Großen und Ganzen so, wie ich es geplant hatte, konnte ich die Wanderung zu Ende bringen. Auf der Bahnfahrt zurück nach Koblenz setzte dann wieder Regen ein. Tropfen am Fenster, Tropfen in der Mosel, der Himmel grau und wolkenverhangen. Wie egal mir das jetzt war!

 

Peter May