Der lange Weg zum Piz Badile

Weit unten im Schweizer Bergell steht ein Berg wie eine überdimensionale Schaufel – der 3.308 Meter hohe Piz(zo) Badile. Über die Nordkante des Badile, sozusagen an der rechten Seite des Schaufelblattes, zieht eine wahrhaft majestätische Linie vom Gipfel weit hinab ins Bondasca-Tal. Direkt über die Kante führt eine Route, die zu Recht als eine der schönsten Felsklettertouren in den Alpen gilt. Zu ihrem Ruf trägt auch die enorme Länge der Kletterei bei, es gilt in etwa 30 Seillängen 1.200 Klettermeter bzw. 700 Höhenmeter zu überwinden. Zur reinen Kletterzeit zwischen fünf und acht Stunden kommen noch mal zwei Stunden Zustieg und drei Stunden Abstieg über den Normalweg auf der Südseite des Piz Badile. Nach einer Nacht auf der italienischen Gianetti-Hütte (2.534 m) geht es üblicherweise am nächsten Tag sechs Stunden lang über den Passo Porcellizzo (2.961 m) und den Passo della Trubinasca (2.701 m) zurück zum Ausgangspunkt, der schweizer Sasc-Furä-Hütte (1.904 m) bzw. zum Parkplatz auf der Alp Laret (1.247 m). Die Nordkante des Piz Badile, deren technische Schwierigkeiten nicht den fünften Grad übersteigen, wurde erstmals 1923 von Alfred Zürcher und Walter Risch durchstiegen. Heute sind die Standplätze und einige Zwischensicherungen mit soliden Bohrhaken versehen. Die Badile-Nordkante ist entsprechend beliebt und wird häufig begangen. Wer mehr über den Berg und seine Erschließungsgeschichte wissen will, dem sei das Buch: „Badile - Kathedrale aus Granit“ von Marco Volken, AS-Verlag, Zürich 2006 empfohlen.

Berge besitzen nur die Bedeutung, die wir ihnen beimessen. Was für den einen bloß ein Haufen Steine ist, ist für den anderen ein Eldorado voller Träume, Triumphe und Tragödien, gleichermaßen begehrenswert wie herausfordernd. Ich schreibe sicher nichts falsches, wenn wir Bergsteiger und Kletterer uns manchmal mit einem ganz bestimmten Berg oder mit einer ganz bestimmten Route auf geheimnisvolle Weise eng verbunden fühlen. Meine erste Begegnung mit dem Piz Badile reicht zurück in den Sommer des Jahres 1997. Ich war schon 34 Jahre alt und hatte erst kurz vorher mit dem Klettern angefangen. Aber schon damals stand die Badile-Nordkante ganz oben auf dem Wunschprogramm unserer Klettergruppe und wir brannten vor Ehrgeiz auf alpine Heldentaten. Groß war die Enttäuschung, als wir am Maloja-Pass einen ersten Blick auf die Nordostwand des Piz Badile erhaschen konnten. Tief eingezuckert, kalt und abweisend präsentierte sich der Berg und ließ in seinem winterlichen Kleid unsere Gipfelträume sogleich platzen. Der Stachel war aber gesetzt und in all den Jahren danach war der Berg mit seiner berühmten Nordkante in meinen Gedanken ständig präsent. Die nächste Gelegenheit ergab sich 2002, als wir mit der Kletterguppe eine Woche auf der Südseite des Bergells im Val Masino und Val di Mello verbrachten. Damals verhinderte Dauerregen den geplanten Aufstieg zur Gianetti-Hütte und alle Versuche an einem der hohen Berge der Bondascagruppe. Einen erneuten Anlauf unternahm ich zusammen mit meinem Bergkamerad Detlev Reimann im Frühsommer 2007. Als wir im Bergell ankamen, war das nötige stabile Wetter zwar da, aber auch noch ziemlich viel Schnee in der Route über die Nordkante. Da war partout nichts zu machen, leider. Außerdem fühlte ich mich nicht richtig in Form. Schon der Aufstieg zur Furä-Hütte setzte mir konditionell ziemlich zu. Für den Verzicht auf die Badile-Kante entschädigten wir uns damals mit der ebenfalls sehr schönen, aber vergleichsweise harmlosen Klettertour über die markante „Bügeleisen-Kante“ an den benachbarten Pizzi Gemelli. Nach dem Motto „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ ergab sich 2008 eine erneute Chance, um die Nordkante zu knacken. Wieder einmal waren wir mit der Klettergruppe für eine Woche im Bergell, diesmal im Albigna-Gebiet. Doch die Sterne standen wie zuvor nicht günstig für unser Vorhaben. Diesmal war zwar kein Schnee in der Tour, aber wir hatten die ganze Woche über kein stabiles Bergwetter und außerdem war auf den Hüttenstützpunkten Sciora und Sasc-Furä kein einziger Schlafplatz mehr zu ergattern. Einmal mehr ließ uns die Nordkante also abblitzen. So was nennt man wohl Pech. Aber die Badile-Kante, dieses lauernde Ungeheuer, hatte mich gepackt und ließ mich nicht mehr aus seinen Fängen. Unsere Traumtour aufzugeben kam nicht in Betracht, noch nicht. Nun ja, der Berg ist bekanntlich kein Frosch, er hüpft nicht einfach so davon. Wir konnten warten…

 

Im Sommer 2009, im fünften Anlauf, passt dann endlich alles zusammen – das Wetter, die Schneeverhältnisse, die Unterkunft, die Fitness und nicht zuletzt die richtige Seilschaft. Detlev und ich hatten uns die erste Woche im August frei gehalten, um unser Projekt anzugehen. Und wir hatten Glück! Genau zu dieser Zeit sollte sich eine Phase mit zwei, drei Tagen stabilem Hochdruckwetter einstellen. Jetzt oder nie! Mit einer Mischung aus Vorfreude, Optimismus und letzten Bedenken fahren wir bei strömendem Regen die wohlbekannte Strecke ins Bergell und steigen noch am Montagnachmittag zur Sasc-Furä-Hütte auf. Unser erster Versuch an der Badile-Kante endet am nächsten morgen schon am Beginn der eigentlichen Kletterei auf 2.590 Meter Höhe. Die von den Wetterfröschen für diesen Tag versprochene Besserung lässt auf sich warten. Ein eisiger Wind treibt dichte Nebelfetzen um die Kante. Wenn die Wolken kurz aufreißen und die Sicht auf den Gipfelbereich frei geben, können wir deutliche Schneeflecken ausmachen. All das verheißt ein ungemütliches, ja riskantes Unterfangen. Wir sind allein am Einstieg und unschlüssig, was wir tun sollen. Die Kälte kriecht in unsere Glieder und raubt uns zunehmend Kraft und Willen. Aus Ehrfucht vor der Tour wird beklemmendes Unbehagen. Als auch nach einer Stunde des Abwartens das Wetter nicht besser wird, siegt letztendlich die Vernunft über den Ehrgeiz: umdrehen und zurück zur Hütte! Leicht ist uns die Entscheidung nicht gefallen, aber rückblickend ist sie genau die richtige gewesen. Immerhin konnte Detlev noch eine Reihe schöner Fotos von der Sturm-umtosten Nordkante machen.

Am nächsten Tag sind die Verhältnisse dann einwandfrei – blauer Himmel, eine sanfte Brise, blanker, trockener Fels. Endlich kann es losgehen. Mittwochs um vier Uhr in der Früh geht die übliche Hektik auf der Hütte los, jeder will der erste sein. Bei Sonnenaufgang stehen wir am Einstieg und machen uns zügig ans Werk. Das schöne Wetter hat natürlich noch viele andere Aspiranten zum Badile gelockt, so dass wir an dem Tag auf der Nordkante nie wirklich allein sind. Das hat zwar den Vorteil, dass wir nicht lange nach dem Weg suchen müssen, dafür aber den Nachteil, dass sich die Seilschaften - so zwanzig, dreißig mögen es an dem Tag an der Nordkante und nebenan in der klassischen Cassin-Führe gewesen sein - stauen und gegenseitig behindern. Das allein wäre ja nicht weiter schlimm gewesen angesichts des traumhaften Wetters. Was mich aber buchstäblich fast aus den Socken gehauen hätte, ist ein heftiger Steinschlag, den eine vorausgehende Seilschaft ausgelöst hat und mich, ausgerechnet im Vorstieg und weit über der letzten mobilen Sicherung stehend, genau auf „die Zwölf“, will sagen auf die Mitte meines Helmes trifft. Zum Glück habe ich guten Stand und kann mich nach einem Warnruf noch dicht an die Wand ducken, so dass außer einer Beule in meinem Helm nichts weiter passiert. Das hätte auch anders ausgehen können! Nach einem solchen Ereignis fängt man an zu grübeln, ob das mit der alpinen Kletterei alles noch Sinn macht. Vielleicht war es ja ein Fingerzeig von oben? Ansonsten gehen die vielen Seillängen problemlos und zu meinem eigenen Erstaunen relativ flott vorüber. Wir klettern überschlagend und teilweise simultan mit „fliegender“ Sicherung. Die Kletterei und das Anbringen von Sicherungen und Standplätzen gehen flüssig vonstatten, wir sind in einem guten Rhythmus. Nach verschiedenen Berichten von Begehern der Nordkante hatte ich mit schon mit einem wahren Martyrium gerechnet, so elend lang sei die Kletterei. Gottlob war es aber nicht so. Sechs Stunden nach dem Einstieg stehen wir am eisernen Gipfelsignal des Piz Badile. Endlich oben. Keine Jubelrufe, kein Triumphgefühl, statt dessen eine erste, vorsichtige Erleichterung. Die Tour ist ja noch lange nicht zu Ende, die Anspannung hält an. Der Abstieg über den Normalweg zur Gianetti-Hütte ist für uns dann auch anspruchsvoller und nervenaufreibender als die ganze Kletterei zuvor. In unbekanntem und unübersichtlichem Gelände geht es entlang von diversen Couloirs und Bändern in die Tiefe. Über längere Strecken hinweg müssen wir im 2. bis 3. Grad ohne Sicherung abklettern, stellenweise ist es ziemlich heikel. Die mitgenommenen Topos und Routenbeschreibungen sind auch keine große Hilfe, weil sich die Wirklichkeit, wie so oft, doch ganz anders präsentiert. Aber mit Umsicht, Spürsinn und vielleicht auch ein wenig Glück kommen wir ohne Blessuren vom Berg herunter.

Da wir nicht ganz ins Tal absteigen und einen teueren Taxitransfer machen wollen, nehmen wir nach einer gemütlichen Nacht auf der Gianetti-Hütte den Fußweg durchs Val Codera zurück zur Sasc-Furä-Hütte. Was ich mir bei den Vorplanungen als genussvolle Bergwanderung vorgestellt hatte, ist in Wirklichkeit eine lange, mühsame und nicht ungefährliche hochalpine Unternehmung. In ständigem Auf und Ab geht es über zwei Pässe knapp unter der 3.000er Marke. Steile Blockfelder, hart gefrorene Firnrinnen, ungesicherte Kletterpassagen sowie steinschlägige Geröllcouloirs fordern noch mal Aufmerksamkeit und vollen Einsatz. Entsprechend kaputt kommen wir in der Mittagshitze an der Furä-Hütte an, wo erst mal aufgetankt wird. Der steile Abstieg nach Laret geht noch mal gehörig in die Beine, die einfach nicht mehr wollen. Aber auch dieses letzte Stück des langen Weges geht irgendwann zu Ende. Auf das anschließende Bad im eiskalten Wasser des Bondasca-Bachs haben wir uns schon lange gefreut. Mit dem Schweiß und Dreck auf unserer Haut werden auch die Sorgen und Strapazen der letzten Tage abgewaschen. Auf der langen Heimfahrt dürfen sich die müden Glieder endlich ausruhen und eine wohlige Zufriedenheit macht sich breit. Erst allmählich, je mehr die unmittelbaren Eindrücke am Berg verblassen, fange ich an zu begreifen, was uns da gelungen ist. Nicht mehr aber auch nicht weniger als die Erfüllung eines großen Klettertraums. Es ist ein tiefgehendes, lang anhaltendes Glücksgefühl.

So schließt sich der Kreis um den Piz Badile, der mich zwölf Jahre lang in seinen Bann gezogen hat. Diese lange Zeit von den ersten Gipfelträumen bis zur erfolgreichen Besteigung ist für mich persönlich der bemerkenswerteste Punkt der ganzen Unternehmung. Gerade die vielen erfolglosen Versuche zuvor geben dem schlussendlichen Gelingen eine ganz besondere Bedeutung. Ich gebe zu, dass ich eine gewisse Erleichterung verspüre, nicht weiterhin gegen den Berg anrennen zu müssen. Bleibend ist für mich auf jeden Fall der Eindruck der ästhetischen Kante, dieser monströsen und dennoch ungemein anziehenden Linie. Und auch der – für mich bisher unerreichte – Umfang der Tour: zusammen genommen haben wir an den vier Tagen 24 Stunden reine Kletter- bzw. Marschzeit verbracht und dabei 6.800 Höhenmeter im Auf- bzw. Abstieg überwunden. Nicht zuletzt verbleibt aber auch ein Gefühl der dankbaren Verbundenheit zu meinem Bergfreund Detlev, der mir wie schon oft zuvor ein freundlicher, starker und absolut zuverlässiger Partner war.

 

Peter May