Meine „Tour de Suisse“

„Radfahrer sind - in gewisser Hinsicht - Verrückte, und deshalb tun sie - wider besseres Wissen - immer wieder Dinge, die normale Menschen als Strafe empfinden. An einem Tag auf dem Rennrad die Innerschweizer Pässe Susten, Furka und Grimsel in einer 120 Kilometer langen Schleife zu befahren, 3.563 Höhenmeter zu überwinden, dabei dreimal in vegetationslose, geröllübersäte Sphären jenseits der 2000-Meter-Marke zu stoßen, das kann nur Leuten einfallen, die ihre Suche nach dem Ich gelegentlich in existentialistische Grabenkämpfe ausarten lassen.“

Diese lakonische Bemerkung über eine klassische Alpenrundfahrt, die jährlich Hunderte von ambitionierten Hobby-Rennradfahrern absolvieren, las ich vor etlichen Jahren in einer Bergzeitschrift. In der Tat hatte ich schon oft aus dem Auto in einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid Radfahrer beobachtet, die sich aus mir unerfindlichen Gründen stundenlang die scheinbar endlosen Anstiege hoch quälten. Wie das wohl ist - ständig das Ziel vor den Augen, das einfach nicht näher kommen will, auch wenn man sich noch so anstrengt? Seit jenem BERGE-Heft ist mir die Idee nicht mehr aus dem Kopf gegangen, derartiges selbst mal zu probieren. Hinzu kommt, dass ich die Gegend um Furka-, Grimsel- und Sustenpass schon von verschiedenen Klettertouren her kannte und mir die Landschaft ans Herz gewachsen ist. Die Radtour versprach neue Einsichten in eine von vertikalen Akzenten geprägte Welt. Sport, Natur und die Auseinandersetzung mit mir selbst - eine ideale Kombination. Mal was anderes und der Reiz des Unbekannten, etwas neues eben. Konkret wurde der Plan, als ich im Sommer 2008 zwei Wochen freie Zeit für mehr oder weniger nützliche Dinge hatte. Ich hatte ja keinerlei Erfahrung mit Radtouren in den Bergen und erst recht nicht mit Passfahrten und keine Ahnung, wie anstrengend es sein würde. Deshalb teilte ich mir die Strecke vorsichtshalber in zwei Tagesetappen auf, um das Risiko des Scheiterns zu minimieren. Hin- und Rückfahrt in die Schweiz kamen ja auch noch dazu und ich wollte möglichst nicht länger als zwei Tage von zuhause weg sein. Groß trainiert hatte ich vorher nicht. Gewissermaßen als Test radelte ich aber in sechs Stunden von Koblenz auf die Hohe Acht und zurück. Das waren rund 1.000 Höhenmeter auf 105 km Strecke, einschließlich eines Steilstücks mit rund 15 % Steigung zwischen Schloss Bürresheim und Kirchwald. Es sollte also gehen. Als die Wetterprognose zwei Tagen gutes Bergwetter versprach, fuhr ich am Freitagmorgen, 27. Juni 2008 mit dem Rennrad im Kofferraum in gut sechs Stunden nach Innertkirchen (625 m), dem Ausgangspunkt meiner Rundfahrt.

Umziehen, Luft nach pumpen, Rucksack packen - endlich geht´s los! Ohne langes Einrollen geht es ausgangs Innertkirchen gleich steil zur Sache. Die 26 km lange Auffahrt durchs Haslital überwindet 1.540 Höhenmeter bis zum Grimselpass. Die Straßensteigung beträgt im Schnitt 6 %, maximal 11 %. Nicht allzu steil also, aber es zieht sich lange, sehr lange hin. Um mich nicht vorzeitig zu verausgaben, fahre ich bewusst langsam und kraftsparend. Ich bin mir nicht zu schade, im kleinsten Gang und im Stehen im Schneckentempo den Berg hoch zu schleichen - eigentlich verpönt unter Rennradlern. Es stört mich auch nicht, dass mich andere Pedaleure überholen, die wesentlich schneller und leichtfüßiger sind als ich. Ich bin ja Neuling hier und sowieso Flachländler, also Galama! Dafür gibt mir das gemächliche Treten immer wieder Gelegenheit, nach rechts und links in die Bergflanken zu spähen und in Erinnerungen an früher Erlebtes einzutauchen. Dort links, hinter dem Kraftwerk, sind die Handegg-Wände, wo ich vor ein paar Jahren mit Katrin den Quarzriss kletterte. Und weiter oben am Räterichsbodensee, da waren Werner, Fritz und ich im Klettergarten mit den spiegelglatten Granitplatten. Dahinter das Bächlital und der Große Diamantstock mit seinem langen Ostgrat. Eine meiner ersten alpinen Klettertouren, damals mit Hermann und Werner... Es läuft gut, das Wetter hält ebenso wie die arthrosegeplagten Knie. Letztere melden sich nach einer Weile spürbar, aber der Schmerz ist vertraut und hält sich in Grenzen. Also weiter! Eine gewisse Anspannung fällt von mir ab, als ich nach dreieinhalb Stunden die Passhöhe der Grimsel auf 2.165 Meter Höhe erreiche. Sozusagen der Point of no return - hier hätte ich abbrechen und umkehren können, wenn es doch zu anstrengend geworden wäre. Ein kurzer Fotostopp, dann geht es weiter und in wenigen Minuten die sechs Kilometer lange Serpentinenstraße hinunter nach Gletsch (1.757 m). Erstaunlich, wie schnell man den Berg wieder runter ist, nachdem man sich so lange hochgeschuftet hat! Dort gönne ich mir nur eine kurze Pause zum Trinken und für einen Schokoriegel, denn jetzt kommt der zweite anstrengende Teil des Tagesprogramms, die Auffahrt zum Furkapass. „Nur“ 10 km lang, dafür aber bis zu 14 % steil und auf immerhin 2.431 m hinauf, der Scheitelpunkt der Rundfahrt. Hier wird die Luft schon merklich dünner. Das Wetter zeigt sich aber von seiner besten Seite und vor allem wird es gegen fünf Uhr nachmittags endlich ruhig auf der Straße. Den Verkehr, besonders die Motorräder, die allein oder in größeren Gruppen dicht an mir vorbeidonnern, empfinde ich als Störung, ja als Bedrohung, vor allem in den engen, dunkeln Tunnelröhren. Jetzt aber sind die meisten Touristen schon im Quartier, ich genieße die Ruhe, den Sonnenschein, die Landschaft. Die Anstrengung ist in einer rhythmischen Eintönigkeit aufgegangen, der Atem gibt das Tempo vor. Stehen, Sitzen, Schalten, Trinken, so vergeht Minute um Minute. Das Ziel ist die nächste Kurve, die Zahlen auf Tachometer und Höhenmesser interessieren mich schon lange nicht mehr. Endlich, am Hotel Belvedere, ist auch das steilste Stück der Rundfahrt geschafft. Kurz vor der Passhöhe halte ich an und genieße die Aussicht weit hinaus ins Wallis und auf die Viertausender des Berner Oberlandes. Linkerhand der Passstraße glänzen die spärlichen Reste des vor wenigen Jahren noch imposanten Rhonegletschers in der Abendsonne. Wie die Grimsel ist auch der Furkapass eine markante Wetterscheide. Schien eben noch im Obergoms die warme südliche Sonne, so dräuen jenseits der Furka im Urserental finstere Wolken und es bläst ein eisiger Wind. Hier oben liegen an der Straße noch beträchtliche Schneereste aus dem lang andauernden Winter, das Hochgebirge zeigt sich deutlich. Weitere Erinnerungen werden entlang der Strecke geweckt: dort hinten am Fort Galen haben Peter, Werner und ich damals gesessen und Nudeln gekocht. Wann war das noch, die Klettertour an den Wandfußplatten des Furkahorn? Mit Fritz habe ich mal ´ne lange Kletterroute drüben am Kleinen Furkahorn gemacht, gleich über dem zerrissenen Rhonegletscher. Den Namen habe ich vergessen, aber sie war schön. Und dann natürlich die Graue Wand mit der Niedermann-Führe, sie liegt nur wenige Kilometer links von mir. Es ist jetzt schon fünf Jahre her, als ich diesen Pause-Klassiker mit Katrin geklettert bin... Mit einer kurzen Abfahrt beende ich ziemlich ausgekühlt nach fünfeinhalb Stunden den ersten Teil der Rundfahrt am Berghotel Tiefenbach (2.106 m), das unmittelbar an der Furkapassstraße liegt. Eine ausgiebige heiße Dusche, zwei Halbe Bier und leckere Schweizer Röschti sind der Lohn des Tages, den ich einigermaßen geplättet, aber mit dem Erreichten hochzufrieden in einem behaglichen Matrazenlager beschließe.

Der nächste Tag beginnt gemächlich. Ausgeschlafen und nach einem guten Frühstück fahre ich zeitig los, ich will noch vor dem Tagesrummel durch die Schöllenen-Schlucht sein. Hier ist viel Verkehr zu erwarten und es sind einige Tunnels zu durchfahren, vor denen ich mich ein wenig fürchte. Die erste Stunde geht es eigentlich nur bergab, über Andermatt und Göschenen nach Wassen verliere ich auf 25 km noch mal 1.200 Höhenmeter. Gut, dass ich die lange Radhose und eine Windstopperjacke dabei habe, in der schattigen Schlucht ist es noch empfindlich kühl. Nur kurz ein Blick nach links in die Diagonale, auch 2003 mit Katrin geklettert. In Wassen (916 m) biege ich von der Gotthard-Route links ab in Richtung Sustenpass (2.224 m). Von nun an geht es bergauf - oder auch bergab, je nach Perspektive. Die Auffahrt durchs Meiental zum Sustenpass ist nicht allzu lang - 18 km - und auch nicht allzu steil - im Schnitt 7 %. Was ihn aber so unangenehm macht, ist die Stetigkeit des Anstiegs. Es gibt auf der ganzen Strecke kein einziges flaches Stück, auf dem man sich ein wenig erholen könnte. Zum krönenden Abschluss folgen dann noch ein paar extra steile Serpentinen vor dem Tunnel auf der Passhöhe. Wahrscheinlich fällt mir dieser Anstieg aber auch deshalb so schwer, weil die Beine sich noch nicht von der Anstrengung des Vortags erholt haben. Für die 1.300 Höhenmeter brauche ich dann auch relativ viel Zeit, so um die drei Stunden. Oben am Sustenpass mache ich einen kurzen Verpflegungs- und Fotostop. Heute, an einem sonnigen Samstag, sind viele Hobby-Rennradfahrer auf der Strecke unterwegs - und leider ebenso viele Motorräder. Aber was soll´s, ich bin oben und habe mein Ziel so gut wie erreicht. Jetzt noch mal voll konzentrieren, es gilt noch die 27 km lange, rasante Abfahrt durchs Gadmertal ohne Sturz zu überstehen. Die Straße ist gut ausgebaut und ich habe mich inzwischen an das schnelle Kurvenfahren gewöhnt. So kann ich es mal richtig laufen lassen und brettere mit 60 Sachen die Straße runter. Das macht Spaß! Von der Streckenführung und der Landschaft ist diese Seite des Sustenpasses eindeutig die schönere und abwechslungsreichere. Auch hier immer wieder Bruchstücke aus der Erinnerung: die Klettertouren rund um „Sven Glückspilz“, die Zeltnächte mit Peter, Heino und Gudrun am Steingletscher... Die 1.600 Höhenmeter vom Susten nach Innertkirchen hinab sind schnell abgespult. Innerlich grinsend grüße ich die mir entgegen kommenden Radfahrer. Ätsch - ich hab´s schon hinter mir, ihr aber noch vor euch. Ein wohliges Glücksgefühl macht sich breit in mir. Nach insgesamt fünf Stunden Fahrt bin ich um die Mittagszeit wieder am Auto zurück und am Abend wohlbehalten zuhause. Ziel erreicht. Die nächsten Tage lege ich die Beine hoch und lasse es mir gut gehen.

Was habe ich von meiner Tour de Suisse mit nach Hause genommen? Intensive Eindrücke in einer urwüchsigen Landschaft, die verschiedenen, nacheinander durchfahrenen Vegetationszonen, die Wetterscheide an den Pässen. Und die Erkenntnis, dass nicht die Länge, Höhe, oder Steilheit einer Radstrecke das Problem ist, sondern das Tempo. Auf der Suche nach dem Ich bin ich aber nicht weiter fündig geworden. Die existenziellen Fragen stellen sich nach wie vor: wer bin ich, warum tue ich das, warum suche ich immer neue Herausforderungen? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war es etwas Besonderes, eine tolle Tour, an die ich noch oft denken werde. Den Worten des erfolgreichen deutschen Radprofis Olaf Ludwig möchte ich deshalb nur bedingt zustimmen, der einmal meinte: „Ich finde die Alpen auch schön, aber sie sind völlig ungeeignet zum Radfahren.“

 

Peter May