Regen, Sonne und Schnee – eine Hütten-Wanderung im Alpstein

Ein Bericht von Peter May

22.10.2023

Ein Tourenbericht im DAV-Panorama 5/2021 hatte mich seinerzeit sofort gefesselt: eine 5-tägige Bergwanderung von Hütte zu Hütte im schweizerischen Alpstein-Gebirge, die auf markierten Pfaden über Almwiesen und ausgesetzte Grate hinwegführt und spektakuläre Aussichten auf schroffe Kalkgipfel und malerische Bergseen versprach. Der höchste Gipfel auf der Wanderroute und im gesamten Alpstein ist der Säntis mit 2.502 Metern Meereshöhe. Es geht also ins Hochgebirge, aber die technischen Schwierigkeiten sollen moderat sein. Für die Tour wird keine Eis,- Kletter- oder Klettersteigausrüstung benötigt, was einen kleinen, leichten Rucksack erlaubt. Das wäre doch was! Der Artikel landete erst mal in der Schublade, blieb aber stets im Kopf präsent. Als mein Sohn Benedict einen tollen Fotospot erwähnte, den er gerne mal mit seiner Fotoausrüstung besuchen wollte, stellte sich heraus, dass dieser genau auf der erwähnten Wandertour im Alpstein lag. Wir waren uns schnell einig: das wird eine schöne Familien-, Berg-, Wander- und Fototour! Meine Frau Bianca brauchte nicht lange überredet zu werden und in den Sommerferien 2023 ging es dann tatsächlich los.

Als vorsichtiger Mensch hatte ich schon im Voraus alle vier Berghütten auf der geplanten Route kontaktiert und Betten bzw. Lager für uns reserviert, damit wir bei dem im Hochsommer zu erwartenden Andrang nicht vor überfüllten Hütten stehen und abgewiesen würden. Dies gab uns zwar für alle Tagesetappen die Sicherheit für ein Nachtlager und Verpflegung, zwängte uns aber in einen starren Zeitplan, was sich noch als verhängnisvoll erweisen sollte. Aber der Reihe nach. Als wir am Sonntag, dem 6. August von Koblenz Richtung Schweiz starten, liegt über Mitteleuropa, wie so oft im verregneten Sommer 2023, ein kräftiges Sturmtief. Gegen Mittag erreichen wir in strömenden Regen den kleinen Weiler Wasserauen am nordöstlichen Fuß des Alpsteingebirges im Appenzeller Land. Der Name passt irgendwie. Nordstau, Dauerregen, die Gipfel in Wind und Wolken gehüllt. Wir streifen unser Regenzeug über, schultern die Rucksäcke und trotten los, nicht ohne zuvor die Parkgebühren via App und Kreditkarte bezahlt zu haben. Beim Geld-Einnehmen sind die Schweizer schon findig, das muss man ihnen lassen. Unser Tagesziel ist das Berggasthaus Schäffler auf 1.925 m Meereshöhe, was ein Aufstieg von gut 1.000 Höhenmeter bedeutet. Davon hätten wir uns 800 m sparen können, wenn wir die Gondelbahn hinauf zur Ebenalp genommen hätten, aber noch sind wir voll Tatendrang und gehen unseren Weg trotzig zu Fuß. Auf unserer Route liegt das Gasthaus Äscher und nebenan das Wildkirchli, eine Schauhöhle mit prähistorischen Funden und Bärenknochen. Natürlich schauen wir uns beides an, auch wenn alles triefnass ist. Der Blick auf das Gasthaus, das an eine senkrechte Felswand geklebt ist, ist weltberühmt. 2015 kürte die National Geographic das Äscher-Wildkirchli zum „schönsten Ort der Welt“. Was im Zeitalter von Internet und Instagram darauffolgte, kann man sich leicht vorstellen. Bei dem heutigen Schietwetter sind hier aber nur relativ wenige Leute für das begehrte Selfie unterwegs, uns kann das recht sein. Weiter geht es durch nasse Wiesenwege, Matsch und Kuhfladen, bis wir den Bergkamm erreichen. Hier bläst ein lausig kalter Wind und wir sind froh, als wir müde und durchnässt nach dreieinhalb Stunden endlich die Hütte erreichen. Trotz Regenschutz sind alle Klamotten, auch die im Rucksack, nass. Richtig ärgerlich ist es, dass die Feuchtigkeit auch in Bennis teure Fotoobjektive eingedrungen ist und sich als trüber Schleier auf den Linsen niedergeschlagen hat. Wir wärmen uns mit einer heißen Suppe auf, bringen die nassen Klamotten in den Trockenraum und beziehen ein gemütliches 4er Lager. Das Wetter bleibt schlecht und wir müssen uns für den nächsten Tag einen Plan B überlegen. Tatsächlich hat es in der Nacht weiter geregnet und sogar bis auf unter 2.000 Meter hinab geschneit. Die Gipfel und Grate sind in dichte Wolken gehüllt und die geplante Überschreitung des Säntis ist bei diesen Bedingungen nicht zu verantworten. Da wir am Abend in der Rotsteinpass-Hütte sein müssen, bleibt als Alternative nur noch der Abstieg ins Tal und erneuter Aufstieg zur Rotsteinhütte. Das heißt erst mal 800 Höhenmeter Steilabstieg über die Altenalp zum Seealpsee auf 1.142 m und dann gleich wieder 1.000 Höhenmeter hinauf zur Rotsteinhütte auf 2.120 m. Das ungewohnte, lange Bergabgehen über holprig-steile Wiesenpfade und durch den matschigen Wald macht mir zu schaffen. Trotz der Wanderstöcke brennen die Oberschenkel vor Schmerzen. Das kann in den nächsten Tagen ja noch heiter werden! Bisher war ich bei unseren Familien-Bergtouren stets vorne voran, aber mittlerweile hat unser Jüngster diese Rolle übernommen und ich trotte ziemlich bedröppelt am Schluss unserer Reisegruppe hinterher. Das Alter, es klopft erbarmungslos an die Tür! Der tolle Anblick der vielen Wasserfälle und Sturzbäche, die ins Tal rauschen, ist da nur ein schwacher Trost.

Im Tal angekommen brauche ich erst mal eine Pause und Stärkung. Diese gönnen wir uns in der „Forelle“ am Seealpse, während wir einen kräftigen Regenguss aussitzen. Als der Regen aufhört, steigen wir wieder auf in Richtung Meglisalp, die auf 1.517 m liegt. Kurz bevor wir diese erreichen, erwischt uns ein weiterer heftiger Schauer. Weil wir die lästigen Regenhosen im Rucksack gelassen haben, werden wir unten herum wieder klatschnass. Wie begossene Pudel flüchten wir uns in die Geborgenheit eines Gasthauses, trinken heißen Tee und warten die nächste Regenpause ab. Ich telefoniere mit der noch mal 600 Meter höher liegenden Rotsteinpass-Hütte: „… ja, ihr könnt kommen … hier oben liegt schon eine geschlossene Schneedecke, aber der Weg hat Trittspuren … es ist machbar.“ Also ziehen wir wieder los, über matschige Wege, die manchmal kleine Bäche sind, immer weiter hinauf, bis wir auf etwa 1.800 Meter Höhe in den Schnee kommen. Es graupelt von oben, aber der Wegverlauf ist offenkundig und von anderen Wanderern gut ausgetreten. Mühsam und langsam, aber ohne nennenswerte Probleme geht es weiter, zum Schluss durch knöchelhohen Neuschnee und kalten Wind, bis wir endlich die Hütte am Rotsteinpass erreichen. Es ist schon surreal, wie wir mitten im Sommer durch eine weiße Winterlandschaft stapfen! Unsere Bergwanderung hatte ich mir jedenfalls ganz anders vorgestellt.

Auf der Hütte dasselbe Spiel wie gestern: raus aus den nassen Klamotten, heißer Tee und Suppe rein, Lager beziehen. Alles in allem waren wir heute neun Stunden unterwegs und es war kein Genuss. Mit anderen Hüttengästen tausche ich mich über die Wetterlage und unsere Tourenpläne aus. Morgen wollen wir eigentlich über den 2.300 m hohen Altmannsattel und auf dem Grat weiter zum Mutschen und zur Stauberen-Kanzel gehen, aber nur zwei Bergwanderer haben heute diese Gratüberschreitung gemacht. Sie berichten, dass da oben noch sehr viel Schnee liegt und ihre Begehung des Steigs ohne Eisausrüstung ziemlich heikel war. Die Hüttenwirte raten bei diesen Verhältnissen ebenfalls von einer Begehung ab, es sei denn, dass bis morgen früh noch viel Schnee wegtaut. Tut es aber leider nicht. Die Nacht ist frostkalt und am Morgen zeigen sich die steilen Bergflanken immer noch weiß eingezuckert und die Gipfel in eine Wolkenmütze gehüllt. Die Entscheidung ist schnell getroffen: nichts riskieren, stattdessen wieder einen langen Umweg hinab ins Tal machen, um sicher zur vorab gebuchten Stauberen-Hütte zu kommen. Auf demselben Weg wie gestern rutschen und stolpern wir wieder hinab, 500 unnütze Höhenmeter, bis zur Meglisalp (1.616 m). Dann auf steilen Serpentinen gleich wieder hoch zum Widderalpsattel auf 1.855 m, um sogleich wieder 450 Höhenmeter abzusteigen bis zur Bollenwees.

Das ständige Auf und Ab geht mir wieder gehörig in die Knochen und lässt mich zunehmend an der Sinnhaftigkeit unserer Bergwanderung, oder besser gesagt, an meiner körperlichen Leistungsfähigkeit, zweifeln. Immerhin ist mittlerweile das Sturmtief abgezogen und die Sonne zeigt sich wieder an einem freundlich-blauen Himmel. Am malerisch gelegenen Berggasthaus Bollenwees bestehe ich auf einer längeren Ess-, Trink- und Ruhepause. Auf der gut gefüllten Terrasse ergattern wir noch einen freien Tisch mit herrlichem Blick auf den Fählensee und die darüber aufragenden Felsgipfel. Ich mache den Fehler, ein Getränk mit viel Fruchtsäure und Fructose zu mir zu nehmen. Die Quittung bekomme ich in den nächsten Stunden in Form von üblen Bauchkrämpfen. Es hilft nichts, wir müssen weiterziehen. Über etliche Serpentinen geht es wieder steil hinauf zur Saxlerlücke. Hier ist es ziemlich voll, ein buntes Gewimmel von Leuten aus aller Herren Länder bevölkert die Wege und Wiesen am Joch. Und das nicht nur wegen des schönen Wetters, sondern vor allem wegen des international bekannten Fotospots. Hier ist Selfie-Rummel, Bum-Bum-Box inklusive, die nahe Bergbahn macht es für Allzuviele möglich. Von der Saxlerlücke aus und etwas oberhalb davon bietet sich ein sensationeller Blick auf die massive, senkrecht gestellte Kalkplatte der Kreuzberge. Vor dem tiefen, breiten Rheintal wirken sie umso höher, steiler und erhabener. Auch wir schießen jede Menge Fotos von den spektakulären Bergen. Unser Hobbyfotograf kommt jedenfalls voll auf seine Kosten.

Es folgt noch eine weitere Stunde Fußmarsch, nun aber wieder auf der ursprünglich geplanten Route, bis wir das Berggasthaus auf der Staubern-Kanzel erreichen. Die Hütte liegt direkt auf dem langgezogenen Berggrat und überragt wie ein Adlerhorst das breite Rheintal. Die Aussicht ist wunderschön und reicht vom Bodensee bis weit bis in die Zentralalpen hinein. Da die Hütte gleichzeitig die Bergstation einer Gondelbahn ist, sind wieder viele Wanderer und Ausflügler hier oben. Jetzt zahlt es sich für uns aus, dass wir ein eigenes Dreibettzimmer reserviert haben. Heute waren wir insgesamt acht Stunden unterwegs, in denen wir über zwei Pässe hinweg 1.100 Hm ab- und 800 Hm aufgestiegen sind. Trotz aller Beschwernisse war es der erste gute Bergtag in einer traumhaft schönen Umgebung. Am vierten Tag steigen wir wieder, den Muskelkater und die erneuten Regenwolken ignorierend, wiederum auf steilen Pfaden ganz ins Tal hinab, um den langgezogenen Sämtisersee (1.207 m) zu umrunden. Am See machen wir im Gasthaus Plattenbödeli eine Mittagrast. Leider bekommt mir erneut das Essen nicht. Später geht es auch Bianca nicht so gut, vielleicht haben wir uns irgendwo einen Virus eingefangen. Über eine Schotterstraße wandern wir wieder bergan zum bereits bekannten Berggasthaus Bollenwees, wo wir ein 4-er Lager gebucht haben. Heute waren es zwar nur insgesamt sechs Stunden und 800 Höhenmeter, aber es hat, besonders mich, wieder ziemlich geschlaucht. Dafür entlohnt uns die tolle Berglandschaft mit Seeblick, den wir direkt aus dem Fenster unseres Zimmers genießen können. Am nächsten Morgen geht es uns allen wieder prächtig. Weil wir heute noch die lange Heimfahrt vor uns haben, ersparen wir uns den Umweg über die Meglisalp und nehmen dafür den direkten, dafür aber auch sehr steilen Steig über die Bogartenlücke nach Wasserauen. Als wir nach dem Frühstück losziehen, zeigt sich in der Morgensonne der spiegelglatte Fählensee zwischen nebelumwaberten Bergwänden nochmal in ganzer Pracht.

Das zauberhafte Bild gräbt sich tief in die Seele ein und entschädigt für manches Ungemach in den letzten Tagen. Auch der Himmel ist wieder klar und blau. Er scheint sich zum Abschied wieder mit uns versöhnen zu wollen. Der 400 m hohe, steile Aufstieg zur Bogartenlücke erweist sich zum Glück als weniger anstrengend (und schmerzhaft) als befürchtet, erst recht der lange Abstieg über 850 Hm zum Parkplatz in Wasserauen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich vorsorglich eine Ibu eingeworfen habe. Ich hadere: ist das das richtige Mittel, sind Bergtouren jetzt nur noch mit Schmerz- oder Betäubungsmitteln möglich? Ich weiß es nicht, es hat aber auch nicht geschadet. Als wir kurz vor dem Parkplatz in Wasserauen sind, lockt ein sprudelnder Bach zum Bad. An einer geschützten Stelle tauchen Bianca und ich unsere Körper in das eiskalte Bergwasser ein, waschen Schweiß und Dreck von unserer Haut, kühlen die brennenden Füße. Die Erfrischung ist herrlich und tut gut, auch in der Seele. Derart positiv gestimmt und voll tiefgehender Eindrücke machen wir uns schließlich auf den Heimweg. Das Tourenbuch notiert: alles in allem waren es in den fünf Wandertagen 3.500 Höhenmeter im Auf- und ebenso viele im Abstieg, die Gehzeit (mit Pausen) betrug 30 Stunden. Verwendete Karte: Landeskarte der Schweiz 1 : 25 000, Blatt 1115 Säntis (Alpstein - Seealpsee - Hoher Kasten)

Das Fazit unserer Hüttentour im Alpstein fällt durchaus zwiespältig aus. Wir haben eindrücklich die Feststellung von Klimaforschern bestätigt gefunden, dass das Alpenwetter immer unberechenbarer wird und damit die Tourenplanung immer schwieriger, auch für vermeintlich einfache Bergwanderungen. Schnee bis in tiefere Lagen im August, das gibt schon zu denken. Weiterhin ist mir schmerzhaft deutlich geworden, wie sehr die körperliche Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit im Laufe der Jahrzehnte abgenommen hat. Auf der Haben-Seite können wir jedoch die wertvolle, gemeinsam verbrachte Familien-Zeit verbuchen, die durch nichts Anderes zu ersetzen ist. Und was mich wirklich tief beeindruckt und begeistert hat, ist die wilde Schönheit des Alpstein-Gebirges mit seinen schroffen Kalknadeln und den idyllischen Seen. Es ist eine Bilderbuchlandschaft, die wenig bekannt, aber doch so nah ist. An den langen Felsgraten zwischen Pilatus und Altmann hängen jedenfalls noch drei einsame Säcke von uns. Wir müssen noch mal wiederkommen, um sie abzuholen – dann aber mit Seilbahnhilfe und nur bei bestem Bergwetter!

Peter May