Die Fahrt
Zeitsprung. Ein paar Wochen später. Es ist Dienstag, der 8. September 2020. Die Zeit des Abwägens und Taktierens, des Zögerns und Zauderns ist vorbei. Die Wetterfrösche haben für heute trockenes und sonniges Wetter bei moderaten Temperaturen gemeldet. Ich habe einen Tag Urlaub genommen und sitze, nach einer unruhigen Nacht, mit einer Mischung aus Skepsis und Vorfreude bei Sonnenaufgang im Auto, die gute alte Alu-Rennmaschine mit der 2 x 9 - Kompaktschaltung liegt startklar im Kofferraum. Als ich bei Birgel das Kylltal erreiche, bekomme ich erst mal einen Schreck: der Frostwarner leuchtet auf und meldet 4 Grad Außentemperatur. Na, das kann ja heiter werden! Zum Glück handelt es sich aber nur um eine lokale Kaltluftsenke, auf den Höhen hat es elf, zwölf Grad – gerade warm genug für eine lange Tour. Gleich hinter der belgischen Grenze am Losheimer Graben stelle ich das Auto ab. Um zwanzig vor Neun schwinge ich mich auf den Sallel, es geht los! Vorsichtshalber habe ich mich warm eingepackt – Handschuhe, Sturmhaube, lange Hose und vier Oberteile. Auf der flachen Höhe erreiche ich schnell den Weißen Stein (690 m), kehre nach ein paar Fotos um und verstaue den warmen Pulli wieder im Auto. Dann geht es auf der windigen Hochfläche weiter in südlicher Richtung zum Schwarzen Mann, der höchsten Erhebung der lang gezogenen Schnee-Eifel. Den mäßig steilen Anstieg fahre ich bewusst kraftsparend, teilweise im kleinsten Gang, weil ich mich keinesfalls verausgaben will. Immer noch angespannt höre ich misstrauisch auf jedes kleine Geräusch am Fahrrad, registriere jedes kleine Ziehen in den Waden. Wie wird der Tag wohl enden? Am höchsten Punkt des Schwarzen Manns (699 m), der unspektakulär auf einer flachen Straßenkuppe liegt, kehre ich wieder um und genieße die erste schnelle Abfahrt hinab ins Tal der Prüm. Ich will es wissen und trete kräftig rein: boah, 71 Sachen, Tagesmaximum! Vor dem nächsten Aufstieg mache ich in Willwerath eine kurze Pause. Eine Banane verschwindet im Bauch, die langen Klamotten im Rucksack. Erstaunlich schnell erreiche ich über welliges Gelände die Bundesstraße bei Gondelsheim. Der leichte Rückenwind aus Westen trägt dazu bei, dass ich gut vorankomme und über Büdesheim, Lissingen und Gerolstein schon kurz vor Mittag Pelm erreiche, wo ich eine weitere kurze Pause zur Stärkung einlege. Der Zeitplan steht und nach knapp der Hälfte der zu fahrenden Strecke wächst die Zuversicht. Hier im Tal der Kyll ist mit rund 350 Metern Meereshöhe der niedrigste Punkt der Tour, der folgende Aufstieg auf knapp 700 Meter der längste. Ich kenne die lange, steile Straße nach Kirchweiler hinauf von einer früheren Tour und habe großen Respekt vor ihr. Gerade hier macht sich aber die geänderte, kleinere Übersetzung am Rad bezahlt. Zwar langsam, aber immer im niedrigen Pulsbereich arbeite ich mich den Berg hinauf. Die Beine bleiben locker, der Elektrolytverlust hält sich in Grenzen. Das Wetter ist mittlerweile perfekt: knapp 20 Grad, leichter Westwind und der Sonnenschein sorgt für gute Stimmung und Optimismus. Da auf dem Scharteberg (691 m) ein Sendemast des Südwestfunks steht, führt ein asphaltierter Weg fast bis zum Gipfel. Die letzten zehn, zwanzig Höhenmeter gehe ich zu Fuß bis zum höchsten Punkt des Vulkans, der durch einen kleinen Steinmann markiert ist. Dann geht es wieder zurück nach Kirchweiler und wenig später stehe ich am Fuß des nahe gelegenen Ernstbergs (699 m). Hier muss ich das Rad schon weit unten im Wald stehen lassen, es gibt keinen fahrbaren Weg hinauf zum Gipfel. Für den Auf- und Abstieg zu Fuß brauche ich eine halbe Stunde, mehr als ich geplant hatte. Die Geheinlage hat aber den positiven Nebeneffekt, dass sich die einseitig beanspruchte Beinmuskulatur etwas entspannen und erholen kann. Nun geht es zügig weiter über Dockweiler nach Dreis. Die hier erhoffte Pause fällt aus, da der Biker-Treff am Kreisel noch geschlossen ist. Also gleich weiter über die Bundesstraße nach Kelberg, es läuft. Bei der Tankstelle am Ortseingang halte ich an und gönne mir eine viertel Stunde Rast mit einem erfrischenden Radler und einem trockenen Brötchen. Das tut gut, aber das Aufstehen danach fällt schon schwer. Egal, ich muss weiter. Auf direkter Linie über Köttelbach steuere ich nun den Hochkelberg (675 m) an. Der Anstieg durch den Wald ist steil und auf einem Kilometer Strecke nur geschottert, lässt sich aber dennoch gut befahren. Der Gipfel bietet einen weiten Ausblick nach Westen und die bereits abgehakten Berge - ein gutes Gefühl. Zur positiven Stimmung trägt nicht unmaßgeblich bei, dass die seit heute Morgen im Norden sichtbare kompakte Wolkenbank eines Tiefausläufers dort hängen bleibt und nicht zu mir herüber schwappt. Nach dem fünften Berg fühle ich mich immer noch wohl und bin inzwischen zuversichtlich, dass ich es schaffen kann. Mittlerweile ist es drei Uhr und spätestens um sechs will ich am Ziel sein. Also weiter. Auf der Ostseite des Hochkelbergs fahre ich auf Asphaltwegen wieder hinab. Über die vielen kleinen Struth-Dörfer geht es jetzt in beständigem Auf und Ab in nordöstlicher Richtung weiter in die Hocheifel, bis ich hinter Welcherath den Nürburgring erreiche. Der Motorsport ist nicht zu überhören, von der Grand-Prix-Strecke dröhnen die hoch aufgedrehten Rennwagen und Motorräder hinüber. An den überdimensionierten Protzbauten des grandios gescheiterten Vergnügungsparks entlang radle ich weiter zur markant aufragenden Nürburg (676 m). Am Ende des gleichnamigen Dorfs versperrt mir ein Kassenhäuschen den Weiterweg. Ich erspare mir den Eintritt und die letzten paar Geh-Meter bis zum höchsten Punkt der Burgruine und kehre am Restaurant „Zur Nürburg“ wieder um. Bei diesem Berg reicht mir der Punkt, bis zu dem ich mich auf öffentlichen Straßen frei bewegen kann, er liegt auf 640 Meter Höhe. Ich liege gut in der Zeit und gehe mit schon leise aufkommender Freude die Weiterfahrt zum letzten und gleichzeitig höchsten Berg der „Seven Summits“ an. Glücklicherweise hat die entlang der Nordschleife führende Bundesstraße einen breiten Seitenstreifen, auf dem ich gefahrlos zur Hohen Acht weiterfahren kann. Auch die letzte nennenswerte Steigung geht ohne den gefürchteten „Mann mit dem Hammer“, ohne Leistungseinbruch aufgrund Unterzuckerung ab. Offenbar habe ich zwischendurch genug Powerbars und Energy-Gels eingeworfen und damit den „Motor am Laufen“ gehalten. Auch hat das magnesiumhaltige Iso-Getränk in den Trinkflaschen wohl verhindert, dass ich Wadenkrämpfe bekomme. Wichtige Erfahrungswerte, die ich bei früheren Touren erst schmerzhaft erlernen musste. Noch ein Stück über die Landstraße und ein letzter, extra steiler Waldweg, dann stehe ich tatsächlich auf der Hohen Acht (747 m), dem höchsten Punkt der Eifel und meiner Radtour. Ich habe es tatsächlich geschafft! Nach dem Besuch der Gipfelsäule steige ich noch die Stufen auf den steinernen Aussichtsturm hinauf und genieße den freien Rundumblick. Gegen die schräg stehende Sonne kann ich im Südwesten den Hochkelberg und den Funkturm am Scharteberg erkennen, die bewaldeten Höhenrücken der Westeifel sind dagegen schon in der dunstigen Ferne verschwunden. Meine Heimat. Ein Geschenk! Dann rolle ich wieder den steilen Asphaltweg hinab und bin wenig später am Berghotel Hohe Acht, dem vereinbarten Abholpunkt. Es ist 17:10 Uhr, das sind achteinhalb Stunden seit dem Start heute Morgen. Der Tacho zeigt 121 gefahrene Kilometer an. Zusammen mit den vielen Aufstiegsmetern eine Menge Zeug! Am Ende bin ich verblüfft, dass alles so glatt gegangen ist. Ich habe keine Schmerzen, weder in den Knien noch am Sitzfleisch und musste mich auch nicht besonders quälen. Besser hätte es nicht laufen können!