„Einen ganzen Tag lang auf hohen Graten wandeln, ein nicht enden wollendes Gipfelgefühl, mit Blicken auf türkisgrüne Seen, eisige Viertausender und ins weite Mittelland – die langen Kämme über Brienzersee und Thunersee machen es möglich.“ Mit diesen verlockenden Worten und einem stimmungsvollen Foto im DAV-PANORAMA, Heft 5/2017 war mein erstes Interesse für die Überschreitung des langen Brienzergrats geweckt. Endgültig geschehen war es um mich, als mir eine Bekannte ihr Handyfoto mit der Aussicht auf den See und die Eisriesen zeigte – wow, das wollte, das musste ich mit eigenen Augen sehen! Es sollte aber acht Jahre bis zum Sommer 2025 dauern, als ich den Traum Wirklichkeit werden ließ. Zusammen mit meinem Sohn Benedict, der zwischen seinem Abitur und dem Studium noch etwas freie Zeit hatte, konnte ich die Tour endlich unternehmen.
Der gesamte Brienzergrat erstreckt sich vom Brünigpass (1.008 m) über das Brienzer Rothorn (2.349 m) hinweg bis zum Harder Kulm (1.306 m) über eine Länge von 32 Kilometern. Die Wanderung über den Grat ist technisch nicht allzu schwer (max. T4+/T5-), jedoch konditionell recht fordernd. Sie sollte nur bei trockenen Verhältnissen und stabilem Wetter unternommen werden, da man sich über weite Strecken in grasigem Absturzgelände bewegt. Der Weg ist nicht markiert und kann als „alpiner Steig“ charakterisiert werden. Üblicherweise wird die Wanderung über den kompletten Brienzergrat in zwei Tagen mit einer Übernachtung auf dem Berghaus Rothorn Kulm unternommen. Wahlweise kann man auch nur den zentralen – und lohnendsten - Teil des Grats in einer Tagestour begehen, da von Brienz eine Bergbahn bis zum Gipfel des Rothorns führt. Von dort aus bis zum Harder Kulm, wo eine weitere Seilbahn zurück ins Tal nach Interlaken führt, sind immer noch 20 Kilometer Strecke und insgesamt 4.000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg zu bewältigen, wobei zehn Gipfel zu überschreiten und neun bis zehn Stunden Gehzeit zu veranschlagen sind. Dies war auch unser Plan. Für konditionsstarke und schnelle Wanderer ist das durchaus machbar, aber für mich im zarten Alter von 62 Lenzen könnte das Pensum eventuell zu hoch sein – es würde sich zeigen.
Als sich Anfang August 2025 ein längeres Schönwetterfenster in den Alpen auftut, entscheiden wir uns kurzerhand, die Wanderung über den Brienzergrat in einer Hau-Ruck-Aktion anzugehen, d. h. zeit- und kostensparend als Ein-Tagestour inklusive Hin- und Rückfahrt von/bis Koblenz. Am frühen Sonntagmorgen um 01:00 Uhr fahren wir also los und erreichen nach fünfeinhalb Stunden in der Schweiz unser erstes Ziel, die Talstation Rothorn-Bahn in Brienz. Die historische Zahnradbahn von 1892 bringt uns gemütlich die 1.700 Höhenmeter hinauf aufs Brienzer Rothorn. Das Wetter ist prächtig und die gleißende Morgensonne lässt die imposante Bergwelt um uns herum in voller Pracht erstrahlen. Der PANORAMA-Artikel hat nicht übertrieben, die Aussicht auf den unwirklich türkisblauen Brienzersee, der seine Farbe der einfließenden Aare mit ihrem Gletschersediment verdankt, ist atemberaubend. Der spektakuläre Anblick bietet sich während der ganzen Wanderung, da die Route immer auf der Kammhöhe und oberhalb der Waldgrenze verläuft. Das Sahnehäubchen der Tour ist aber der unverstellte Blick auf die eisgepanzerten Drei- und Viertausender des Berner Oberlandes, die von vis-a-vis über den See hinweg grüßen: Wetterhorn, Schreckhorn, Finsteraarhorn, Eiger, Mönch, Jungfrau und viele andere. Tatsächlich ist dieses Landschaftserlebnis unvergleichlich, großes Berg-Kino eben!
Wir starten ohne langen Aufenthalt um halb neun Uhr zu unserer Wanderung, weil wir heute Abend noch die letzte Talfahrt der Harder-Kulm Seilbahn erreichen wollen. Mit der Sonne im Rücken geht es zunächst über den Breitengrat westwärts bis zum „Lättgässli“, einer steil abfallenden Schlucht mit künstlichen Treppenstufen, mittels derer eine felsige Grat-Passage nordseitig umgangen wird. Über den Chruterepass und den Gummisgrat geht es zum ersten markenten Gipfel, dem Briefehörnli (2.164 m). Dann geht es in ständigem Auf und Ab, aber immer der messerscharfen Gratkante entlang zu den nächsten Gipfeln, dem Balmi (2.141 m) und dem formschönen Tannhorn (2.220 m), der zweithöchsten Erhebung des Brienzergrats. Im Anstieg auf das Tannhorn ist auf kurzer Strecke ein Drahtseil gespannt, mit dem eine etwas schwierigere und ausgesetzte Felspassage gesichert ist. Ansonsten gibt es keinerlei Sicherungen auf der Wanderstrecke, auch nicht in potentiellem Absturzgelände.
Als im Laufe des Vormittags die Sonne höher steigt, wird es auch hier oben auf dem Berg immer wärmer. Vor allem in den Aufstiegen und wenn kein kühlender Wind über die Gratkante streicht, wird es drückend heiß und der Schweiß beginnt zu rinnen. Das ist aber nicht das eigentliche Problem, vielmehr spüre ich deutlich die Beschwernisse des Alters. Obwohl ich Wanderstöcke benutze und bewusst langsam gehe, komme ich beim Bergauf-Gehen sofort in einen maximalen Pulsbereich und heftiges Schnaufen. Meine Beine fühlen sich ungewohnt schwer an und fangen bald an zu schmerzen. Die Muskulatur scheint der Belastung einfach nicht mehr gewachsen zu sein. So stakse ich beim Bergab-Gehen unsicher und steif durchs Gelände, muss mich permanent mit den Gehstöcken abstützen. Das kostet natürlich viel Zeit und ich bin entschieden zu langsam für die lange Tour. Dann erlebe ich zwei Schlüsselmomente: als ich in praller Sonne ein steiles Stück hinaufsteige, wird mir vor Anstrengung fast schwarz vor den Augen. Kurz danach komme ich beim Aufstieg durch eine steile Schotterrinne ins Schwanken und wäre beinahe, wenn ich nicht noch gerade so einen Stein zu fassen bekommen und Halt gefunden hätte, rücklings ins Bodenlose gestürzt. Die Alarmzeichen sind unübersehbar und ich nehme sie ernst. Benni bekommt von all dem nichts mit, er ist weit voraus und mit seiner Fotografie beschäftigt.
Nachdem wir mit dem Allgäuhorn (2.047 m) den vierten Gipfel überschritten haben, erreichen wir die Allgäu-Lücke (1.918 m), von der aus zwei Abstiegswege zurück ins Tal führen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und teile sie – schweren Herzens – meinem Tourenpartner mit: Ich bin fertig, ich kann nicht mehr und in meinem Zustand ist es jetzt einfach zu gefährlich, weiterzugehen; wir müssen deshalb die Bergtour an dieser Stelle abbrechen. Zumal wir nach vier Stunden ja noch nicht mal die Hälfte des geplanten Wegs hinter uns haben und vor uns noch sechs weitere Gipfelüberschreitungen und – mindestens – sechs Stunden Gehzeit liegen. Der alternative „Plan B“ lautet: 1.300 Höhenmeter Abstieg über die Südflanke nach Oberried am Seeufer, was laut Wegweiser immerhin auch noch mal zweieinviertel Stunden dauern soll. Benni ist einverstanden. Es gibt keine Diskussion, denn meine Langsamkeit und Überforderung sind auch ihm nicht entgangen. Und die Wanderung bis hierhin hat sich sowieso schon absolut gelohnt. Also nehmen wir den „Notausstieg“ und gehen auf ruppigen Pfaden über steile Grashänge und später durch den Bergwald hinab nach Oberried. Vor allem meine vordere Oberschenkel-Muskulatur ist nicht mehr belastbar und schmerzt bei jedem Schritt höllisch, so dass ich nur in kleinen, ungelenken Trippelschritten vorankomme. Ich schlucke eine Ibu und nehme Energiegels, aber das alles hilft nichts. Es ist nur noch eine einzige Quälerei. Am Ende werden es noch mal drei weitere Gehstunden in der Mittaghitze, bis wir endlich den Bahnhof in Oberried erreichen. Nach sieben Stunden Marsch in praller Sonne mit gut 13 Kilometern Strecke und insgesamt 3.000 Höhenmetern im Auf- und Abstieg ist hier die (Tor-) tour vorbei. Ich bin total fertig und froh, es überhaupt noch aus eigener Kraft ins Tal hinab geschafft zu haben.
Als wir kurze Zeit später bequem im klimatisierten Zug nach Brienz sitzen, wundere ich mich, wie schnell sich Körper und Geist wieder erholen, sobald die Belastung nachgelassen hat. Weil wir früher als geplant wieder am Auto sind und nach einer Erfrischung lechzen, nehmen wir noch ein ausgiebiges Bad im klaren, kalten Wasser des Brienzersees, der von oben so schön türkisfarben geleuchtet hat. Was für eine Wohltat! Mit sauberer Haut und frischen Klamotten geht es sogleich wieder zurück Richtung Heimat. Ohne Probleme und mit nur wenig Stau kommen wir nach sechs Stunden Fahrt gegen halb zwölf Uhr nachts wieder in Koblenz an. All das in weniger als 24 Stunden – was für eine Gewalttour!
Ein paar Tage später – der schmerzhafte Muskelkater in den Beinen hält noch lange an – ziehe ich ein etwas zwiespältiges Fazit von unserer Bergtour. Es stimmt schon, die Wanderung über den Brienzergrat mit seinen ästhetischen Gipfeln ist tatsächlich wunderschön, die Aussicht auf den Karibik-blauen See und die mächtigen Eisriesen dahinter ist einfach umwerfend. Das sollte man wirklich mal gesehen haben. Auch dass ich diese Tour gemeinsam mit meinem Sohn machen konnte, hat einen besonderen Wert. Mittlerweile macht er schon selbständig Alpentouren und ich empfinde eine stille Freude darüber, dass ich von meiner Bergbegeisterung ein Stück an ihn weitergeben konnte. Auf der anderen Seite steht die ernüchternde Erkenntnis, dass mein gealteter Körper solch große Unternehmungen einfach nicht mehr mitmacht. Mit dem Brienzergrat habe ich mich schlichtweg übernommen. Ich habe sehr deutlich gespürt, was jeder Bergsportler im Alter schon erfahren hat und was jedem Jüngeren irgendwann einmal bevorsteht: das Nachlassen der Kräfte, das Aufgeben von Zielen, letztendlich das schmerzhafte Loslassen von einer lebenslangen, erfüllenden Leidenschaft. Dennoch hat diese Einsicht auch etwas Positives. Verzicht und Abschied sind Phasen im Leben, der sich jeder Mensch irgendwann stellen muss. Dass ich meine vermutlich letzte große Bergtour unternehmen konnte, ohne dass es ein böses Ende genommen hat, erfüllt mich mit Dankbarkeit. Und so würde ich - bildlich gesprochen - sagen, dass nach der Begehung des Brienzergrats das Weinglas nicht halb leer ist, sondern halb voll.