Unendliche Weiten - Gipfelblick vom Ventoux nach Osten | © Peter May

Dem Riesen der Provence aufs kahle Haupt gestiegen – mit dem Rennrad auf den Mont Ventoux (1.909 m)

Ein Bericht von Peter May

15.12.2023

Zu meinem Sechzigsten wollte ich mir ein ganz besonderes Geschenk machen: einmal mit dem Rennrad auf den Ventoux hinauffahren! Nicht nur, weil der Berg groß und ein landschaftlicher Höhepunkt ist, im Radsport Kultstatus genießt und alpinhistorische Bedeutung hat, sondern weil ich vor drei Jahrzehnten schon mal mit dem Auto da oben war und jetzt endlich den Berg „by fair means“ d. h. mit eigener Muskelkraft erobern wollte. Wer auf der Rhônetal-Autobahn Richtung Mittelmeer unterwegs ist, kann weit im Süden inmitten der grünen Wälder und Weingärten linkerhand unvermittelt einen weiß überzuckerten Berggipfel erblicken. Schnee in der Provence – im Sommer? Nein, auf dem Gipfel liegt kein Schnee. In Wirklichkeit ist der breite Bergrücken von leuchtend-weißem Kalkschotter bedeckt, ein Naturwunder und eine optische Täuschung zugleich. Die Höhe und Dominanz des Mont Ventoux, seine besondere Erscheinung und die unterschiedlichen Vegetationszonen machen den Berg so interessant, für Radfahrer im Besonderen aber die anspruchsvolle Auffahrt auf den legendären Gipfel, der schon 15 Mal Ziel der Tour de France war und an dem sich sportliche Dramen abgespielt haben wie der Erschöpfungs-Tod des britischen Radprofis Tom Simpson. Auf den Gipfel des Ventoux führen drei Straßen hinauf: von Bédoin aus über die Südflanke, von Sault aus über die Ostseite und von Malaucène aus über die Nordflanke. Die meist befahrene Route von Bédoin aus ist zugleich die schwierigste: Auf 21 Kilometer Strecke sind über 1.600 Höhenmeter zu überwinden, was einer durchschnittlichen Steigung von 7,6 % enspricht; ab St. Esteve bei Kilometer 6 beträgt die Steigung anhaltend 8 – 9 %, maximal sogar 14 %. Bei der Tour de France wird der Ventoux als Anstieg der höchsten Schwierigkeit („hors catégorie“) geführt. Für Radsportler kommt erschwerend hinzu, dass es auf der exponierten Südseite im Sommer gnadenlos heiß werden kann und andererseits der isolierte Gipfel oft vom Mistral umtost ist, einem stürmischen, eisigen Nordwind. All das scheint aber die zahllosen Hobbyradler eher anzuziehen als abzuschrecken: Alljährlich quälen sich Zehntausende den Ventoux hinauf und ich wollte es ihnen gleichtun. Mein Plan war eine Rundfahrt mit dem Start in Bédoin, Auffahrt über die steile Südflanke, Abfahrt über die Nordflanke nach Malaucène und dann über hügeliges Gelände zurück zum Ausgangspunkt. Das macht eine Strecke von etwa 60 Kilometern mit 1.800 Höhenmetern bergauf und soll laut Internet-Routenplaner in fünf bis sechs Stunden zu schaffen sein. Keine Frage: ein sportliches Vorhaben!

Mit all dem Wissen im Hinterkopf starte ich Ende Juli 2023 zu der ambitionierten Radtour. Mein Schwager Kurt, mit dem ich zuvor schon einige Radtouren unternommen habe, ist wieder mit dabei. Der Wetterbericht hat für die nächsten Tage stabiles Hochdruckwetter gemeldet und ich habe ausreichend Trainingskilometer in den Beinen. Von vielen anderen Pass-Fahrten weiß ich, dass ich die Anforderungen durchaus bewältigen kann, wenn nur die äußeren Verhältnisse stimmen und ich im niedrigen Tempo- und Pulsbereich bleibe. Auf der langen Autobahnfahrt in die französische Provence überwiegt daher die Vorfreude gegenüber den Bedenken. Gegen Abend erreichen wir den Campingplatz „La Pinede“ in dem Städtchen Bédoin und bauen unter schattigen Kiefern unser kleines Zelt auf, in das wir uns schon recht früh verkriechen. Das monotone Zirpen der Zikaden wiegt mich in einen unruhigen Dämmerschlaf. Um sechs Uhr piepst die Armbanduhr. Der Morgen begrüßt uns mit einem blanken Himmel und angenehm warmen Temperaturen - perfekte Bedingungen für unsere Tour auf den großen Berg. Nach einem schnellen Kaffee und einer Schale Müsli geht es auch schon los, denn wir wollen möglichst vor der größten Mittaghitze wieder zurück sein. Die ersten sechs Kilometer geht es mit vier, fünf Prozent noch gemütlich durch die Felder und Weingärten, bis wir den Waldrand am Fuß der Südflanke des Ventoux erreichen. Ansatzlos wird die Straße neun, zehn Prozent steil und diese Steilheit wird auf den nächsten acht Kilometern auch nicht abnehmen. Ich habe keinerlei Skrupel, sofort den kleinsten Gang einzulegen. Mit meiner Ultegra-Kompaktschaltung - minimal 34 Zähne vorne und maximal 34 Zähne hinten - komme ich ohne große Anstrengung und in einem guten Rhythmus voran. Dafür ist mein Tempo allerdings auch unterirdisch: 8, 7, 6 km/h – mehr ist heute bei dem alten Mann nicht drin. Mein durchtrainierter Begleiter Kurt ist damit freilich völlig unterfordert. Er vertreibt sich die Zeit damit, immer mal ein Stück voraus zu fahren und dann wieder zu mir hinab zu rollen. An dieser Stelle muss ich mich für seine solidarische Fahrgemeinschaft noch mal bedanken. Gemeinsam macht es einfach mehr Spaß! Außer uns beiden sind heute, an einem normalen Werktag, noch viele andere Radler unterwegs: Etliche „sportive, ältere Herren“ wie ich, viele E-Biker, aber auch richtige Cracks, die den Berg nur so hinauffliegen. Die ganz unterschiedlichen Leistungsniveaus, aber auch Ambitionen werden deutlich sichtbar. Bei all den Superlativen, die der Berg und der heutige Tag bieten, habe ich selbst auch einen Rekord zu vermelden: bestimmt bin ich heute mit Abstand der langsamste Fahrer, der hier mit dem Velo hoch will. Und das ist voll in Ordnung so. Meine Devise heißt Ankommen und dabei, soweit möglich, noch etwas Spaß haben. Als wir nach 14 Kilometern das Chalet Reynard erreichen, wird es mit nur noch 6 % für kurze Zeit etwas flacher und damit entspannter. Bald lassen wir die Baumgrenze hinter uns und sind inmitten der öden Geröllwüste, die aus der Ferne so schön weiß leuchtet, aus der Nähe aber an eine leblose Mondlandschaft erinnert. Es wird wieder steiler und jetzt wird es auch für mich richtig hart. Nicht weil die Kraft fehlt oder das Atmen schwerfällt. Nein, das stundenlange, immer gleichförmige Treten verursacht in meinen abgenutzten Knie- und Hüftgelenken stechende Schmerzen, die auch nicht mehr verschwinden. In der Hoffnung, es bald bis nach oben geschafft zu haben, lassen sie sich leidlich aushalten.

Das Wetter bleibt genial: ein leichter, kühler Wind weht und trocknet den Schweiß auf der Haut. Der Himmel über uns wird immer blauer. Der Gipfel mit dem riesigen Funkturm ist schon lange in Sicht, aber die Straße zieht sich Kurve um Kurve dahin. Abwechslung in das eintönige Pedalieren bringen die anderen Radler, die an uns vorbeiziehen (sogar ein Läufer ist dabei!) und diverse Fotografen am Straßenrand, die uns ablichten und dann das Foto im Internet verkaufen wollen. Ein paar Autos brausen vorbei, eines davon gefährlich nahe. Zum Glück ist am Straßenrand ein Schutzstreifen für die Fahrradfahrer markiert, sodass wir uns einigermaßen sicher fühlen können. Dann erreichen wir das Denkmal an der Stelle, wo der Rennfahrer Tom Simpson, Weltmeister und Olympia-Bronze-Gewinner, 1967 bei der Tour de France auf tragische Weise gestorben ist. Sein Herz hatte die Anstrengung des Aufstiegs in Verbindung mit Alkohol und Amphetaminen nicht verkraftet. Auf den Stufen des Denkmals haben andere Radler Trinkflaschen, Fotos und Steine abgelegt, zur Erinnerung an Simpsons Tod und als Mahnung gegen Doping und falsch verstandenen Ehrgeiz. Kurz nach dem Gedenkstein erreichen wir den Col des Tempêtes, der ganz oben auf dem Grat des lang gezogenen Bergrückens liegt und erstmals einen Blick auf die Landschaft im Norden und Osten des Ventoux ermöglicht. Heute haben wir am „Pass der Unwetter“ allerdings Glück: Es bietet sich eine fast grenzenlose Fernsicht vom Mittelmeer bis weit in die Alpen hinein, darüber stahlblauer Himmel und eine gleißende südliche Sonne. Wow, was für eine Aussicht! Das Panorama ist überwältigend und alleine schon die lange Auffahrt wert! Zum Schluss, auf den letzten zwei wirklich steilen Kilometern mit 10 bis 14 Prozent klemme ich mich hinter eine Radlerin, die ebenfalls langsam unterwegs ist, und lasse mich ein Stück „ziehen“. Noch zwei Kehren, noch eine, dann sind alle Müdigkeit und Schmerzen verflogen und ich genieße es regelrecht, die steile Rampe zum Gipfel hinauf zu stürmen. Es ist geschafft! Am offiziellen Straßenschild mit der Aufschrift „Sommet du Ventoux – Alt. 1910 m“ lasse ich mich für das obligatorische Erinnerungsfoto ablichten. Hier oben ist, wie nicht anders zu erwarten, ein großes Gewimmel aus Radfahrern, Bikern und Autotouristen. Der Gipfel und die ihn umgebende, surreal erscheinende Landschaft ist aber auch wirklich ein ganz besonderer, fast magischer Punkt. Nur schwer lasse ich mich von Kurt, der auf die Weiterfahrt drängt, hier losreißen.

Übergangslos geht es jetzt an die rasante Abfahrt. Gegen den kühlen Fahrtwind habe ich mir eine Jacke übergezogen, was hier oben kein Luxus ist. Dann lassen wir es richtig knallen. Kurt ist der bessere (oder mutigere?) Abfahrer und hängt mich sogleich ab. Hin und wieder hält er an und wartet auf mich. Aber auch ich taste mich wieder an das waghalsige Kurvenfahren heran. An einer übersichtlichen Stelle mit gutem Belag erreiche ich immerhin 70 Sachen - geil! Wie die Auffahrt von Bédoin, so scheint auch die Abfahrt nach Malaucêne kein Ende zu nehmen. 20 Kilometer lang geht es über 1.600 Höhenmeter immer nur bergab, mal mehr, mal weniger steil, aber immer kurvig und rasend schnell. Die rauschende Abfahrt pumpt Adrenalin durch die Adern. Die Bremsen leisten Schwerstarbeit, die oft holprige Straße schüttelt Mensch und Maschine ordentlich durch. Ich ignoriere die schmerzhaft verkrampften Hand- und Nackenmuskeln, muss voll konzentriert bleiben. Jetzt bloß nicht verbremsen oder auf den Rabatt geraten! Ein Auto sitzt mir im Nacken und drängelt, hat aber auf der kurvenreichen Straße und bei dem Tempo keine Chance zu überholen. Eine halbe Stunde dauert der Taumel in die Tiefe, ein irrwitziger Tanz auf gerade mal zwanzig Millimetern Gummi. Ich bin ziemlich erleichtert, als wir ohne Blessuren unten in Malaucêne ankommen. Jetzt gilt es, die noch verbliebenen Kräfte für die letzten 13 Kilometer bis nach Bédoin zu mobilisieren. Obwohl das Profil über kupiertes Gelände nicht mehr allzu schwer ist und der letzte Anstieg auf den Col de la Madeleine mit 80 Höhenmetern vergleichsweise kurz, muss ich doch noch mal kräftig „beißen“, nicht nur nach dem kräftezehrenden Gipfelanstieg, sondern auch wegen der inzwischen hochstehenden Sonne. Kurt gibt noch mal Gas und ich versuche, so gut wie möglich dran zu bleiben. Als das Ziel näher rückt, haue ich noch mal alles raus. Gegen Mittag sind wir endlich da und erreichen wir unseren Startpunkt Bédoin. Es ist Markttag und wir müssen uns mit den Bikes durch die Menschenmenge und die Verkaufsstände in der Hauptstraße quetschen, bis wir wieder auf unserem Zeltplatz sind. Ausgepumpt, aber hochzufrieden lassen wir uns in unsere Faltstühle fallen. Ich muss das Erlebte erst mal eine Weile sacken lassen, bis ich ganz erfasse, dass mein großer Wunsch gerade in Erfüllung gegangen ist. Obwohl ich k. o. bin, fühle ich mich gut und in ein paar Stunden oder Tagen, wenn die Schmerzen und der Muskelkater verschwunden sind, werde ich auch wieder normal gehen können. Den Nachmittag verbringe ich gechillt im Schwimmbad des Campingplatzes und erfreue mich meines Daseins. Wie gut, dass alles ohne Probleme abgelaufen ist und wie schön, dass ich das auf meine alten Tage noch erleben konnte! Für die Statistik seien noch folgende Daten unserer Tour auf den Mont Ventoux nachgetragen: 60,8 Kilometer Strecke, 1.800 Höhenmeter und 4:31 Stunden reine Fahrzeit. „Le geant“: merci et adieu!

Peter May