Es ist jetzt einige Wochen - sogar Monate - her, dass ich diesen Bericht schreiben wollte. Ich habe es schon mehrmals versucht, kam einfach nie voran. Jetzt ist endlich Schluss damit. Aber wo fange ich eigentlich an? Besser nicht an der Stelle als Otto uns neben einer 200 m hohen Gletscherabbruchkante im weglosen Gelände heruntergeführte. Auch nicht als wir die Tour - im falschen Tal angekommen - fast gänzlich abgebrochen hätten.
Ich fange mal ganz vorne an, das ist am Einfachsten. Vier Kerle von der Hochtourengruppe: Wladi, Otto, Harald und ich (János) sitzen früh am Morgen im vollgepackten Auto auf dem Weg in die Schweiz, konkret ins Arolla-Tal. Eine unspektakuläre Anreise, die üblichen Gespräche vor einer Bergtour, das kennt jeder. Unüblicher Weise mussten wir für´s Parken nichts bezahlen, was eine willkommene Abwechslung ist. Die Wegfindung: Probleme beginnen schon 200 m vom Parkplatz entfernt… kein gutes Omen, kümmert uns jetzt aber noch nicht. Ob das eine Vorbotschaft ist, für das, was noch kommen wird?
Der Weg zur ersten Hütte führt uns vom Alpe über Wald, dann Stein und sogar über einen aperen Gletscher. Mühselig schleppen wir unser komplettes Gepäck hoch zur Dix Hütte. Hier ist von Corona keine Spur. Es gibt nur ein Schild, das darauf hinweist, dass nackt sein in der Hütte uncool ist… Junges Hüttenteam, lässige Atmosphäre, altes Haus. Eine der Hütten, die ich in Erinnerung behalten werde.
Am nächsten Tag machen wir eine Eingehtour. Aus den letzten Jahren will man etwas gelernt haben, daher wird die nächstgelegene kleine Spitze ausgesucht und erklommen, auch wenn sie nichts Besonderes an sich hat. Seht ihr, den Namen habe ich auch schon vergessen… Der Weg war sehr einfach, komplett über Firn und Schnee, schöner Aufstieg über einen schmalen Grat, bestes Wetter, gute Laune, wir waren alle schon motiviert für die nächsten Tage und die anspruchsvollere Routen.
Der Verhauer
Am Folgetag - um 4:30 Uhr am Frühstückstisch sitzend - fragt uns der Hüttenwirt noch ein letztes Mal, ob wir wirklich gehen wollten. Ja, haben wir geantwortet. Das wollen wir. Die Wettervorhersage war nicht ganz berauschend. Nebel soll den ganzen Tag die Sicht verschlechtern. Eventuell leichter Regen/Schneefall. Eigentlich machbar und - laut den Regeln des Schweizer Alpenclubs - hätten wir auch keine weitere Nacht auf der Hütte bleiben können. Also aßen wir weiter, packten unsere sieben Sachen und zogen los um die Überschreitung der Pigne d`Arolla zur Vignettes Hütte zu machen. Diese Tour ist immer noch als einfach eingestuft. Sie liest sich gut im Wanderführer und sieht gut aus auf der Karte. Jedoch im Nebel… im Nebel sieht man dann doch nicht so richtig. Zum Glück war da eine Spur, am Vortag von einem ortskundigen Bergführer samt Kunden getreten. Auf die ist Verlass. Doch dann kam der Besserwisser in mir hoch, als wir nach einer gefühlten Ewigkeit unseren letzten Orientierungspunkt hinter uns hatten. So wie ich die Karte gelesen hatte, sollten wir weiter rechts sein, doch die Spur ging steil links auf einen Hügel hoch. Keine Chance einzusehen, wo sie weiter führte und verschwand hinter dem Horizont. Da begann unsere kleine Odyssee im Nebelmeer auf dem Hochplateau: Nachdem wir 2 Stunden lang mal rechts mal links probiert hatten und erfolgreich feststellten, wo wir nicht waren, beschlossen wir zu dem Punkt zurückzugehen, wo wir die Spur verlassen hatten. Soweit so gut. Wieder in der Spur machten wir einen schweren Marsch auf den steilen Hügel, um erneut auf einem Plateau zu landen. Da hätten wir eigentlich vor 2,5 Stunden schon sein können… Die Spur hörte jedoch sehr abrupt auf, wurde vom Winde verweht, der Schnee ist wie ein frisch gelegtes weißes Bett. Und es wäre auch willkommen jetzt ein Nickerchen zu machen! Als wir alle zusammen in die Karte schauten und zu 100 % meinten zu wissen wo wir sind, entschieden wir uns die Pigne d`Arolla doch links liegen zu lassen und direkt zur Hütte zu gehen. Es war ja auch schon 14 Uhr, der Schnee wurde langsam weich, die Motivation war relativ tief. Also hier rechts und runter. Dass es hier keine Spuren gab, war doch irgendwie irritierend und nach einer Stunde runter konnte ich es mir nicht verkneifen, schon wieder besserwisserisch drauf zu sein, obwohl ich uns die 2 Stunden Irrfahrt vorher eingebrockt hatte. Nur stellte sich heraus, dass ich diesmal tatsächlich Recht hatte und wir auf dem falschen Gletscher - direkt vor der Abbruchkante - standen. Nach einigem hin und her entschieden wir uns, keinen Heli zu rufen. Da müssten wir ja mindestens jeweils ein gebrochenes Glied als Rechtfertigung in der Sektion aufweisen... Hätten wir eh nicht machen können, hatte doch keiner von uns Empfang… Der Weg zurück erschien unmöglich, hätten wir uns ja schon wieder verlaufen können. Daher schien die beste Option, ins Tal abzusteigen und eine Notunterkunft zu suchen. An dieser Stelle hat Otto zum Glück seine super gute Spürnase unter Beweis gestellt und einen Weg neben der Abbruchkante zum Abklettern gefunden. Also sind wir ungefähr 200m abgeklettert, um dann auf der Moräne zu landen. Liest sich irgendwie unspektakulär, empfand ich aber ganz anders. Wenn man keine 50m weit sehen oder planen kann, dann ist jeder Zeit die Möglichkeit da, dass die ganze Mühe umsonst war und wir doch wieder hoch müssen. Sind wir aber nicht! Heil unten angekommen hatten wir 2,4 km bis zum markierten Wanderweg vor uns. Von da aus noch 2 km zu einer Hütte.
Die renovierte Hütte
An besagter Hütte angekommen fanden wir ein Baugerüst, Bauarbeiter und ein Dixiklo vor, Baustelle eben. Die Hütte war geschlossen, wird gerade auseinander genommen, daneben die neue Hütte gebaut. Harald konnte einen der Bauarbeiter überzeugen, uns in der Ruine übernachten zu lassen. Er hat sogar eine Packung Nudeln für uns gekocht und Kräutersalz dazu gereicht. Die Limo hat die Mahlzeit abgerundet. Es war fürstlich. Wirklich!
Erschöpft, aber sehr dankbar, haben wir unsere Matratzen auf den Boden gelegt und uns ernsthaft darüber unterhalten, was wir am nächsten Morgen machen werden. Wir konnten telefonisch die Vignettes Hütte erreichen und unser Kommen absagen. Die Antwort war, dass Sie uns eine coronabedingte Ausfallrechnung in voller Höhe der Übernachtungskosten stellen sowie einer Verzehrpauschale. Frechheit! Die Stimmung war mies. Wir beschlossen in den nächstgelegenen Ort zu stapfen, von da aus mit ÖPNV oder Taxi zum Auto zu gelangen und dann schnell nach Hause. Es hatte keinen Sinn mehr. Es lief einfach nichts wie es sollte.
Am nächsten Morgen wachten wir mit der Sonne auf. Gegen 7 Uhr fingen auch die Bauarbeiter an. Harald sagte plötzlich: „Wir gehen da hoch!“ Er redete nochmal mit unserem Wirt, der sich später als Wettkampf-Skibergsteiger entpuppen sollte - und zusammen fanden wir einen Weg zur Vignettes Hütte auf dem Nachbargletscher, dem Otemma. Elektrisiert von dem Gedanken packten wir schnell zusammen und begaben uns auf den langen Weg. Der Gletscher war sehr, sehr langatmig, breit, und fast komplett spaltenfrei. Nachdem wir einen Zugang auf den Gletscher gefunden hatten, ging die mentale Anstrengung los. 2 Stunden geradeaus laufen auf ca. 8 % Steigung kann echt auf die Nerven gehen: Man hat das Gefühl, man tritt auf der Stelle. Die Sonne knallt wie in einer Wüste. Die Umgebung verändert sich nicht spürbar, der Gletscher unter einem bleibt gleich und am Horizont tut sich auch nicht viel. Insgesamt 4 Stunden hiervon, dann waren wir schon am letzten Anstieg zur Hütte. Kurz davor noch Rast. Der Anstieg hat endlich wieder ein bisschen Spaß ins Gehen gebracht. Und da war sie, die Vignettes Hütte. Ein Tag später als angedacht, aber Heil angekommen.
Während auf der Dix Hütte keine extra Corona-Vorkehrungen getroffen wurden, herrschte hier voller Alarmzustand: Der Hüttenwirt brüllte uns Instruktionen von der Terrasse aus zu. Wir sollen bitte immer Maske tragen, den anderen Gästen nicht zu nahe kommen, unser Gepäck im Trockenraum lassen und Übernachtungsutensilien in einer dafür ausgelegten Kiste transportieren. Ein wenig wie bei einer Raummission. Zumindest stellte ich mir das so vor. Die Ausfallrechnung wurde zurückgezogen, lediglich für das Abendessen, was sie für uns gekocht hatten, mussten wir bezahlen. Fairer Kompromiss. Wie es uns ergangen war, interessierte keinen. Höflich und hilfsbereit, mehr aber auch nicht ist das kleine Team. Das Essen jedoch ist sehr empfehlenswert.
Die Köpfe leer, alle froh wieder oben angekommen zu sein, das Bier schmeckt nach solch einem Abenteuer noch besser. Doch wir mussten ernsthaft reden. Ich musste mir selber, aber schlimmer noch den anderen, eingestehen, dass ich die Planung verbockt hatte. Zusammen haben wir es ausgebügelt, aber so konnte es nicht mehr weitergehen. Wir drehten eine Stufe zurück, waren ja schließlich hier, um Spaß zu haben, nicht, um uns über unsere Grenzen zu jagen. Daher wurde beschlossen, die anderen geplanten Touren platzen zu lassen und nur noch auf die Pigne hoch zu stapfen, damit wir zumindest das erledigt abhaken können. Dann nochmal die Küche genießen. Das musste sein.
Stille Erleichterung
Am nächsten Morgen standen wir vier oben am Pigne, ganz allein für uns. Andere Gruppen marschierten langsam auf uns zu. Wir genossen die Aussicht auf Matterhorn und Mont Blanc, erfreuten uns am Nebel, der vor unseren Augen tanzte. Ich glaube, nach uns hatte keine der anderen Gruppen das Vergnügen einer Aussicht da oben.
Wieder zurück auf der Hütte, die dicke Luft war raus, alle kamen runter - im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Eine gewisse Leichtigkeit ummantelte uns alle.
Der Abstieg ins Tal war wieder wie jeder andere Abstieg. Ich versuchte noch ein paar Fotos zu knipsen und dabei mit den Jungs das Tempo zu halten, aber vergeblich. Wie immer. Man braucht nur 2 Minuten nicht aufpassen, schon sind sie 1 km entfernt. Sie sind eben schneller als der Blitz.
Dann stand ich in Basel und die anderen drei fuhren weiter… Aber das ist eine andere Geschichte.