Stilfserjoch-Straße | © DAV Koblenz

Hoch hinauf aufs Stilfser Joch (2.758 m) - Radtour auf die „Königin der Alpenpässe“

Mit Ende Fünfzig wollte ich es noch mal wissen: noch einmal einen hohen Gebirgspass hinauf radeln, allein und aus eigener Kraft, vom grünen Talgrund in die Eis- und Geröllwüste des Hochgebirges. Nachdem ich schon 2008 die innerschweizer Pässe Grimsel, Furka und Susten bezwungen hatte und im Jahr 2014 die vier Dolomiten-Pässe der Sella Ronda (Sellajoch, Pordoijoch, Campolongopass m und Grödner Joch) sollte es nun, um das Triple voll zu machen, das Stilfser Joch im italienischen Ortlergebiet sein. Das Stilfser Joch ist mit 2.758 m Meereshöhe der zweithöchste asphaltierte Alpenpass überhaupt (nur der Col de l’Iseran in Frankreich ist mit 2.770 m noch ein paar Meter höher) und mit 1.857 Meter Höhenunterschied ein Gigant unter den Alpenpässen. Auch der Giro d‘Italia führte schon mehrmals auf das Joch und unter Rennradlern hat der Anstieg Kultstatus. Für mein Projekt habe ich eine Rundfahrt geplant, die in Prad im Vinschgau startet, zunächst flach nach Norden bis Glurns führt, dann ins schweizerische Münstertal bis nach Santa Maria; dort hinauf zum Umbrail-Pass und weiter bis aufs Stilfser Joch; anschließend die bekannte Serpentinenstraße auf der Ostrampe hinab nach Prad, dem Ausgangspunkt. Insgesamt kommen so 65 Kilometer Fahrtstrecke und an die 2.000 Höhenmeter zusammen. Die insgesamt 90 Spitzkehren (48 auf der Ostrampe und 42 auf der Nordrampe) mögen ein Indiz für die Steilheit der Passstraßen sein, die im Mittel 9 %, maximal aber 15 % beträgt. Im Sommer 2022 ergab sich während eines Familienurlaubs in Südtirol die Gelegenheit, das Projekt in die Tat umzusetzen.

Es ist Montag, der 1. August, ein warmer, sonniger Tag. Für heute ist stabiles Bergwetter gemeldet und so mache ich mich von meiner Unterkunft im Grödner Tal aus auf den Weg. Mit meinem neuen Rennrad (samt bergtauglicher 34/34er Übersetzung) im Kofferraum geht es in zwei Stunden Autofahrt über Bozen und Meran nach Prad. Hier steige ich genau um elf Uhr am Vormittag aufs Rad - es geht los. Da ich keinen Zeitdruck habe, kann ich es gemütlich angehen. Die ersten paar Kilometer im flachen Talgrund werden locker abgespult. Bewusst habe ich die Auffahrt im Gegenuhrzeigersinn über Glurns und Umbrailpass gewählt, weil hier im Gegensatz zur Ostrampe mit weniger Verkehr zu rechnen ist. So kann ich die berühmte Serpentinenstraße flott hinunter rollen und muss mich nicht langsam bergan durch Abgase, dröhnende Motorräder und Massen von Autotouristen quälen. Hinter Glurns steigt die Straße mit ersten Serpentinen-Kurven bergan. Als es zum ersten Mal etwas steiler wird, lege ich gleich den kleinsten Gang ein und kurbele im Schneckentempo weiter. Es kommt mir überhaupt nicht auf die Zeit an und ich weiß aus Erfahrung, dass die richtige Taktik bei einer großen Radtour wie heute für das Gelingen mitentscheidend ist. Ich will mich also schonen und die Kräfte gut einteilen, zumal ich vom Vortag schon eine lange Bergtour auf dem Pisciadu-Klettersteig mit rund 1.200 Höhenmetern in den Beinen habe - nicht gerade die optimale Vorbereitung, aber die Grundausdauer muss jetzt einfach reichen. In Taufers im Münstertal mache ich im Schatten eines Hauses eine erste Ess- und Trinkpause, die Banane vom Hotelfrühstück verschwindet im Bauch. Ganz wichtig: frühzeitig und regelmäßig Wasser und Energie nachtanken, bloß keinen Hungerast oder einen Krampf riskieren! Als die Sonne gegen Mittag ihren höchsten Punkt erreicht, wird die sommerliche Hitze im Talgrund echt unangenehm. Richtig lästig sind vor allem die zahllosen Bremsen, die von den angrenzenden Heuwiesen aufsteigen und ständig um meinen verschwitzten Kopf herum schwirren. Wild fuchtelnd muss ich die blutrünstigen Biester verscheuchen und zum Glück sticht auch keine zu. Problemlos geht es dann über die italienisch-schweizerische Landesgrenze. Die Zöllner plaudern miteinander und nehmen keine Notiz von mir. Bevor es in Santa Maria richtig steil zur Sache geht, halte ich am Dorfbrunnen noch mal an für einen Energieriegel und eine kurze Erfrischung. Sofort nach der Abzweigung zum Umbrail-Pass wird es ernst: richtig steil und anhaltend geht es jetzt bergauf. Es gibt keine Flachstücke, auf denen man wieder Luft holen könnte. Zum Glück ist die Bergflanke nördlich ausgerichtet und trägt schattigen Nadelwald, so dass die Hitze erträglich bleibt. Dennoch ist das Treten für mich heute ziemlich mühsam und kostet viel, viel Kraft. Die Kurven scheinen kein Ende zu nehmen. Nach jeder Spitzkehre sehe ich über mir eine weitere. Eine ganze Weile lang sehe ich nur Bäume und es scheint keinen Fortschritt zu geben. Das steile Stück durch den Wald kostet eine Menge Nerven, Ausdauer und Moral. Da mir aber außer den schweren Beinen nichts besonders weh tut, auch die anfänglichen Hüftschmerzen verschwunden sind, bleibt die Motivation ungebrochen: ich will da rauf! Umkehren ist keine Option. Der point of no return ist längst überschritten, zu viel habe ich schon investiert. In einem Zustand des Ausgeliefert-Seins ergebe ich mich der scheinbar sinnlosen Monotonie des Tretens: weiter, einfach weiter, immer weiter. Es gibt keine Diskussion, kein Hadern, keinen Plan B. Ich bin eine willenlose Maschine, die stumpfsinnig ihren Auftrag erfüllt. Irgendwann werden die Bäume lichter und ich erreiche die Waldgrenze. Endlich wird der Blick freier. Die grünen Almwiesen und der blaue, weiß getupfte Himmel vermitteln neue Zuversicht. Spätestens alle halbe Stunde halte ich kurz an zum Essen und Trinken, abwechselnd gibt es Energieriegel und -gels. Das hilft, jedenfalls verrichten die Beine unvermindert ihren Dienst. Ich habe schon gut die Hälfte der Auffahrt hinter mir, da bekomme ich einen Schreck: was ist das denn? Der anhaltende Druck der Click-Pedale auf immer dieselbe Stelle verursacht unter meinem rechten Fußballen einen erst leichten, dann immer stärker werdenden Schmerz - verdammt, wer zum Teufel sticht mir jetzt ständig mit dem mit dem Messer in den Fuß? Es hilft nichts, ich muss anhalten und den Fuß entlasten. Nichts geht mehr. Ist das das Ende meines Tourenprojektes? Als ich nach ein paar Minuten Pause wieder auf den Sattel steige, kommt es mir vor wie ein Wunder: die Schmerzen sind vollständig verschwunden und kommen - Gott sei Dank! - auch nicht wieder. Wer weiß, vielleicht war nur ein Nerv überreizt oder die Blutzirkulation gestört. Es kann weiter gehen! Meter um Meter, Kurve um Kurve arbeite ich mich weiter in die Höhe. Schließlich, nach etlichen weiteren Spitzkehren, kann ich in der Ferne schon die Gebäude am Stilfser Joch sehen. Jetzt sollte, nein, jetzt muss es doch gelingen! Dann tauchen am Straßenrand unvermittelt ein kleines Haus und das Schild „Umbrail 2.503 m“ auf. Das größte Stück Arbeit ist geschafft! Nach ein paar Fotos geht es kurz abwärts und dann sofort wieder bergan. Ich bin wieder in Italien, auf Grenzkontrollen wird hier oben verzichtet. Die vom Joch entgegen kommenden Radler haben es schon geschafft, einige werfen mir einen kurzen Gruß zu oder ein aufmunterndes Wort. Danke, liebe Kollegen, das gibt noch mal extra Motivation! Kurz vor der Passhöhe erreiche ich endlich das große, von Aufklebern übersäte Schild mit den magischen Worten „Passo dello Stelvio m. 2758 s.l.m.“ Natürlich drücke ich sogleich der erstbesten Passantin mein Mobiltelefon in die Hand, um ein Foto von mir vor dem Schild zu machen. Die Foto-Trophäe gehört halt einfach dazu. An der Passhöhe herrscht großer Rummel: Souvenirshops, Lokale, viele Touristen, Motorbiker und natürlich jede Menge Rennradler. Ich nehme mir Zeit für ein paar Fotos und vor allem, um den mächtigen Ortler und seine Trabanten in der eisigen Gletscherwelt zu bewundern. Nicht ohne Wehmut, denn in ein paar Jahrzehnten wird das „ewige Eis“ wohl verschwunden sein. Der Ortler ist mit 3.905 Metern der höchste Berg Südtirols, aber vor allem deshalb ein besonderer Berg für mich, weil ich vor etlichen Jahren als Bergsteiger auf ihm gestanden bin. Aber das ist eine andere Geschichte. Es ist jedenfalls ein erhebendes Gefühl, so weit oben im Hochgebirge, sozusagen „Auge in Auge“ mit den Gletscherriesen zu stehen und es erfüllt mich schon mit Stolz, es bis hierher aus eigener Kraft geschafft zu haben. Es ist früher Nachmittag und ich mache mich auf, um das letzte Stück der Rundfahrt anzugehen und den Lohn der elenden Auffahrt einzuheimsen: die rasante, kurvenreiche Abfahrt nach Prad - 1.800 Höhenmeter im Geschwindigkeitsrausch! Schnell, sehr schnell geht es jetzt hinab. Auf knapp dreitausend Metern ist der Fahrtwind empfindlich kühl und es ist gut, dass ich die Windjacke übergezogen habe. Ich muss mich voll konzentrieren, denn der Straßenbelag ist ziemlich schlecht und es schüttelt mich ordentlich durch. Es ist Aufregung und Freude zugleich, die Kehren hart anzubremsen und anschließend wieder pfeilschnell zu beschleunigen. Adrenalin pur! Hier machen sich die Scheibenbremsen meiner neuen Rennmaschine wirklich bezahlt. Kurve um Kurve tauche ich wieder ein in die Vegetation, in die Zivilisation. Knapp eine Stunde, mit Pausen, dauert der nicht ganz ungefährliche Spaß. Dann bin ich wieder in Prad an meinem Auto - glücklich, ohne Sturz, ohne Panne. Die Fahrzeit von 4:45 Std. (mit Pausen 5:30 Std.) und die knapp 1.925 Aufstiegs-Höhenmeter sind abstrakte Zahlenwerte, die sowohl das großartige Bergerlebnis als auch die abverlangte Leistung nur annäherungsweise widerspiegeln können.

 

Peter May