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„Wie Sie sehen, sehen Sie nichts …“

Meine erste Hochtour - Schnupperkurs Eis für Jugendliche in den Ötztaler Alpen

03.08.2025

Dass das die passende Überschrift für unsere erste Gletscherüberschreitung sein würde, hätten wir uns um 4 Uhr morgens auf dem Weg ins Kaunertal auch nicht gedacht. Aber zurück zum Anfang.

4 Uhr morgens: 8 Personen und der kleine DAV-Bus auf dem Weg zu unserer ersten Hochtour auf die Rauhekopfhütte im Kaunertal in Österreich.

An Bord waren János Palik und Christina Milles, außerdem 6 furchtlose Jugendliche, deren größte Angst zu diesem Zeitpunkt noch die Spalten waren – und nicht etwa das fehlende Internet. Auch wenn man bis ungefähr 9 Uhr kein einziges Wort von uns gehört hatte, da alle noch im Halbschlaf waren, wurde der Rest der Fahrt mit verschiedensten Kennenlernspielen gefüllt, bei denen das ein oder andere Interessante herauskam. Zum Beispiel, dass Sophie absolut kein Freund von Kürbissuppe ist. Gut, dass die Hütte nur ein einziges Mal am Beginn der Saison mit dem Hubschrauber beliefert wird und die Kürbisse dann noch nicht verzehrfähig sind.

Gegen halb zwölf kamen wir schließlich am Parkplatz an. Das Material wurde verteilt, wobei die Personen mit den leichtesten Rucksäcken die Seile nehmen mussten. Warum Levin nicht unter den „Auserwählten“ war, erfuhren wir aber erst später auf der Hütte. Jetzt stand erst einmal der Aufstieg an.

Mit kleinen Zwischenpausen zum Essen oder um die Regenjacke anzuziehen, erreichten wir gegen 14 Uhr den Gletscher, den wir überqueren mussten. Nach dem Einstellen und Anpassen der Steigeisen betraten viele von uns zum ersten Mal einen richtigen Gletscher. Die „kleinen Spalten“, die wir vom Aufstieg aus gesehen hatten, waren jetzt gar nicht mehr so klein. Doch durch die Steigeisen, die sich bei jedem Schritt tief ins Eis bohrten, wurde uns die nötige Sicherheit gegeben.

Auf der anderen Seite angekommen, mussten wir nur noch „hoch“. Als wir bereits die grüne Fahne der Hütte sehen konnten, war es geschafft: Die kleine Rauhekopfhütte (Sektion Frankfurt) – die einzige Hütte, bei der sich Freiluftdusche samt Waschbecken direkt vor der Sonnenterrasse befinden und nicht etwa in der Hütte. Na ja, wer braucht denn auch schon Privatsphäre, wenn man diesen schönen Ausblick hat?

Nachdem wir unser Material verstaut, das Lager bezogen und uns zum Abendessen hingesetzt hatten, kam die erschreckende Erkenntnis: Es gab kein Internet! Zumindest nur wenig – und das auch nur mit dem richtigen Anbieter, wie ich mich von Gero belehren ließ, dessen Handy das Internet fast magisch anzog. Wenn jemand Netz hatte, dann er. Deswegen war es auch kein Wunder, dass Gero am Fenster saß, wo es die höchste Quote für Empfang gab.

Nach dem Abendessen und dem Zähneputzen in Regenjacke fielen wir erschöpft in die Betten – zugedeckt mit einer oder auch zwei Wolldecken. Den ersten Tag hatten wir erfolgreich überstanden.

 

Tag 2 – Technik und erste Schritte im Eis

Am nächsten Tag begrüßte uns das Wetter genauso wie der Abend zuvor – mit Regen. Aber das kam uns gelegen, denn so konnten wir in Ruhe frühstücken. Das Wetter besserte sich, und so auch unsere Stimmung.

Nach einer kurzen Besprechung begannen wir den Abstieg zum Gletscher, wo wir lernen sollten, richtig mit Steigeisen zu laufen. Außerdem wollten wir ein bisschen Eisklettern üben. In einer Reihe – fast wie beim einer Polonaise – liefen wir also im Kreis. Im zweiten Teil übten wir das Klettern mit Steigeisen und das Bauen von Eissanduhren. Auch wenn es nicht bei jedem direkt auf Anhieb klappte, war es eine spannende Herausforderung. Neben dem Bauen der Eissanduhren  probierten wir uns auch im Klettern mit Eisgeräten und Steigeisen.

Das Wetter war endlich besser geworden, und wir hatten das erste Mal Sonne – für das erste und letzte Mal in den nächsten zwei Tagen. Gegen Nachmittag kamen wir wieder auf der Hütte an. Jeder schwor sich ab da, den Aufstieg zur Hütte jetzt wirklich zum letzten Mal gemacht zu haben.

Den Abend verbrachten wir mit Spielen, wobei wir erfuhren, warum Levins Rucksack so schwer gewesen war: Zwei Packungen Haribo, eine große Powerbank und Wechselklamotten. Ich war schon froh, dass meine Mutter mir erlaubt hatte, noch ein drittes Paar Socken als „Luxusgegenstand“ mitzunehmen. Manchmal sah man einen Schatten vor dem Fenster und wusste, jemand war wieder auf der Suche nach Internet, das sich langsam zur Rarität entwickelte. Fast wie das bisschen Nutella, das wir jeden Morgen bekamen.

Als wir abends dann im Bett lagen, wussten wir noch nicht, dass am nächsten Morgen das „Winter-Wonderland“ auf uns warten würde.

Tag 3 – Schnee, Whiteout und Schneemann

Als ich aufstand und hinausschaute, sah ich nur Weiß. Es hatte in der Nacht geschneit – im Sommer! 20–30 cm Neuschnee. Die Folgen spürten wir erst, als auch aus dem Wasserhahn und der Toilettenspülung kein Wasser mehr kam. Also mussten die Zähne mit Schnee geputzt werden.

Wir halfen noch beim Spülen und Holz machen, wodurch wir uns einen Kakao verdienten, und begaben uns dann auf die Suche nach dem Weg zum Gepatschferner. Ganz vorne Magdalena, die nach roten Punkten Ausschau hielt – sofern sie nicht schon zugeschneit waren. Mit mehreren Zwischenstopps zum Kontrollieren des GPS erreichten wir im halben Schneesturm den Gletscher – das wurde uns zumindest von János gesagt, denn wenn man nach vorne sah, sah man wirklich nichts. Nicht einmal Tiefe war zu erkennen. Niemand wusste, ob man vor sich einen Hügel oder eine gerade Strecke hatte.

Trotzdem bildeten wir eine 6er- und eine 2er-Seilschaft. Dass sich das nur zum Üben lohnte, merkten wir nach ein paar Minuten im absoluten Whiteout. Als letzte Person konnte man die erste nur vermuten, da sich der Weißton nur leicht vom restlichen Weiß unterschied. Also kehrten wir um.

Zurück auf Fels und ohne Gefahr, in eine Spalte zu rutschen – oder peinlich als dritte Person darin zu baumeln – stand schon die nächste Herausforderung an: der Rückweg, der durch den ständig fallenden Schnee fast nicht mehr zu sehen war. Doch auch das schafften wir. Zurück in der Hütte begannen wir, wie es sich im Winter – äh, Sommer – gehört, einen Schneemann zu bauen.

Dank des Holzofens – unserem neuen besten Freund – wurde es in der Hütte schön warm, und wir bekamen unseren wohlverdienten Kakao. Nach einer kleinen Pause mit Spielen oder einem Nickerchen machten wir noch ein bisschen Theorie zu Material und Gletscherkunde, was jeder wirklich interessant fand.

Was ebenfalls interessant war: das gelegentliche „Ping“ einer Nachricht, wenn eines der Handys – alle ordentlich auf der Fensterbank aufgereiht – ein Lebenszeichen empfangen oder an die Eltern zurückgeschickt hatte. In dem kleinen Raum war es mittlerweile schön warm geworden, was die neu angekommene Gruppe irgendwie nicht zu schätzen wusste. Sie machten alle zehn Minuten das Fenster auf – ohne zu wissen, was für einen Luxus sie gerade genossen. Zugegeben, es war schon ein bisschen muffig – aber wir hatten zum ersten Mal das Gefühl, dass unsere Füße unter dem Tisch nicht erfroren.

Die Nacht war sehr kalt, und aus der zweiten Decke wurde ganz schnell eine dritte. Das Fenster wurde aber wirklich erst dann geschlossen, als es hineinschneite.

Tag 4 – Die Weißseespitze ruft

Am nächsten Morgen: 10 cm Neuschnee on top der 30 cm vom Vortag. Auch die Wasserleitungen waren zugefroren. Unsere Aufgabe war es nun, als Team Schnee zu sammeln, um wenigstens etwas Wasser für Kaffee oder Tee zu haben. Und ja – auch das Nutella mussten wir erst einmal am Ofen auftauen.

Während einige konzentriert an ihrer Honigkunst arbeiteten (weil der Honig nur in Zeitlupe floss), versuchte sich Magdalena daran, Butter auf ihr Brot zu spachteln. Heute stand die Tour über den Gepatschferner hinauf zur Weißseespitze (3.518 m) an.

Die Spuren vom vorherigen Tag konnte man zum Glück noch erahnen. Auch das Wetter hatte sich gebessert: Es schneite nicht mehr, war aber noch bewölkt und diesig. Am Gletscher angekommen, teilte sich die Gruppe wie geübt in eine 6er- und eine 2er-Seilschaft. An der Spitze Jana und János, die mit GPS den Weg suchten und spurten – was höllisch anstrengend war. Man stelle sich vor: In einer Hand der Stock, in der anderen ein Pickel. Bei jedem Schritt sinkt man fast bis zum Knie ein – mit Pech sogar bis zur Hüfte. Kein Wunder, dass János irgendwann nur noch auf allen vieren gespurt hat.

Als wir mehr als die Hälfte geschafft hatten, wobei auch wieder Graupel einsetzte, fragte János in die Runde, ob wir umdrehen wollten. Darauf kam nur ein:

„Wenn wir jetzt umdrehen, hätten wir auch direkt auf der Hütte bleiben können!“ – Gero.

Also stapften wir weiter.

Es wurde immer steiler, und ich hatte das Gefühl, eine 90-Prozent-Schneewand hochzuklettern. Und plötzlich: Fels! Das erste Mal nach Stunden Weiß. Aber es war noch nicht der Gipfel. Keine Ahnung, wie lange wir durch das Whiteout gelaufen sind – aber das Gipfelkreuz sahen wir erst aus 100 Metern Entfernung.

Waren wir trotzdem stolz? Natürlich! Wir standen nun auf knapp 3.518 Metern. Und worauf wir uns jetzt freuten: den steilen Hang wieder hinunterrutschen zu dürfen – was mehr oder weniger gut funktionierte. Gegen 18 Uhr kamen wir an der Hütte an. Die Stimmung war nicht mehr ganz so gut – jedem war kalt, und die Müdigkeit überwog. Dafür schliefen wir umso besser.

Tag 5 – Abstieg und Abschied

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, spürte ich meine Lippen nicht mehr – kein Wunder, sie waren so geschwollen, als hätte ich Botox gespritzt bekommen. Zum Glück war ich damit nicht die Einzige.

Obwohl wir uns mit 50+ Sonnencreme eingecremt hatten, bekamen wir alle starken Sonnenbrand, der sich jetzt schmerzhaft äußerte. Doch viel Zeit zum Kümmern blieb nicht  heute war unser letzter Tag.

Nachdem wir unsere Rucksäcke gepackt und uns bei den ehrenamtlichen Hüttenwirtinnen für das leckere Essen und die netten Tage bedankt hatten, kam die traurige Erkenntnis: Wir konnten unseren Schneemann nicht mit ins Tal nehmen. Der Plan, ihn einzuschmelzen und in unsere Trinkblasen abzufüllen, wurde wieder verworfen – er würde ohnehin bald schmelzen. Natürlich war das Wetter am Abstiegstag plötzlich wieder super, und wir sahen die Hütte das erste Mal im Sonnenschein.

Den Abstieg bis zum Gletscher kannten wir inzwischen auswendig. Und über den Gletscher gab es jetzt schon eine Spur – so erreichten wir zügig den Bus. Nachdem wir kurz unsere Füße in den Bach gehalten und uns umgezogen hatten, war die Luft im Bus nach fünf Tagen ohne Duschen zumindest erträglich.

Im nächsten Ort machten wir noch einen kurzen Halt an der Apotheke, um unseren Sonnenbrand in den Griff zu bekommen, und schlugen dann den direkten Weg nach Koblenz ein. Gegen halb zehn erreichten wir die Sektion, wo die Eltern sehr glücklich waren, ihre Kinder heil – wenn auch etwas röter – wiederzuhaben.

Dennoch kann jeder Einzelne von uns sagen, dass die Tage sehr spannend und lehrreich waren – und vielleicht sogar den einen oder anderen dazu animiert haben, eine eigene Hochtour zu unternehmen. Ich glaube, ich spreche für alle, wenn ich mich dafür bedanke, dass wir eine so aufregende Erfahrung machen durften.

 

Lucia Milles

 

PS: Stefan (Hüttenchef der Rauhekopfhütte), falls du das liest – Magdalena und ich waren im Lager. Mehr als vier Gläser Nutella passen da schon rein ;)